Von Wilfried Nelles
„Ich bin dann mal weg“, meinte einst Hape Kerkeling und machte aus seiner „Pilgerreise“ auf dem Jakobsweg einen vergnüglich zu lesenden Bestseller – wie Jahre zuvor schon die Schauspielerin Shirley MacLaine. Damit will ich keineswegs sagen, dass es den beiden nicht ernst war mit ihrem zeitweiligen Ausstieg aus dem Showbusiness und der Begegnung mit sich selbst, sie haben den mittelalterlichen Pilgerweg halt nochmal richtig prominent gemacht. Seitdem pilgern jedes Jahr Zigtausende aus aller Welt diesen durchaus beschwerlichen Weg nach Santiago de Compostela am ehemaligen „Ende der Welt“, der einem wohlstandsverwöhnten Zeitgenossen – und das sind wir alle – einige Härten abverlangt. Aus allen Ecken Deutschlands und unseren Nachbarländern führen kleine Jakobswege wie Nebenflüsse zum großen Strom jenseits der Pyrenäen, von wo aus sich die Pilgerkarawane wie ein steter Fluss nach Westen wälzt.
Auch etliche Freunde von mir haben sich wochenlang den Qualen dieser „spirituellen“ Wanderung ausgesetzt und berichten alle über tiefgehende Erfahrungen und Begegnungen mit sich selbst. Ich ziehe nichts davon in Zweifel, aber: den wahren Jakobsweg ist keiner dieser modernen Pilger gegangen, und zwar aus einem ganz schlichten Grund: Es gibt ihn nicht mehr. Seit mindestens hundertfünfzig, eher seit zwei- bis dreihundert Jahren ist er für immer verschwunden. Er ist verschwunden, weil die Welt, die diesen Pilgerweg hervorgebracht und für manchen damaligen Zeitgenossen notwendig gemacht hat, nicht mehr existiert. Was immer man heute auf diesem Weg erleben mag, es hat nichts, rein gar nichts mit dem zu tun, was die mittelalterlichen Pilger, die diesen Weg einst begründeten, bewegt hat und was sie dabei erfahren haben. Damit meine ich nicht die Mühen und die Gefahren der Pilgerschaft, sondern das innere Erleben, die spirituelle Grundlage einer Pilgerreise.
Um dies verständlicher zu machen, erzähle ich eine persönliche Geschichte, die nichts mit dem Jakobsweg zu tun hat. Vor drei Jahren hatte ich einen Kurs im Kloster Zeliv im Süden von Tschechien. Es ist ein sehr großes Kloster mit einer sehr schönen Kirche. Vom klösterlichen Leben ist außer dem selbst gebrauten Bier, wie fast überall in Europa, nichts mehr übrig. Die Handvoll Mönche, die noch dort sind, leben von dem Bier samt Restaurant und einem Wellness-Hotel-Betrieb sowie der Vermietung von Räumen für Seminare wie das, wozu ich dort war. Als ich mir in der ehemaligen Klosterpforte die Geschichte des Kosters durchlas, staunte ich nicht schlecht: Kloster Zeliv ist eine Nebengründung des Klosters Steinfeld in der Eifel – Steinfeld liegt vier Kilometer von meinem Heimatort entfernt und ich bin dort zum Gymnasium gegangen. Im 13. Jahrhundert ist ein Mönch aus Steinfeld im südlichen Böhmen aufgetaucht und hat dem dortigen Fürsten oder König einen Befehl des Abtes von Steinfeld überbracht, dort ein Kloster zu bauen. Neun Jahre bin ich im Kloster Steinfeld täglich ein und aus gegangen und hatte keine Ahnung, an welch einstmals mächtigen historischen Ort ich da bin.
Man muss sich dies bildlich vorstellen, um die Dimension dieses Vorgangs auch nur ahnen zu können. Da steigt jemand in Steinfeld auf ein Pferd und reitet tausend Kilometer weit mit einem Brief seines Abtes im Gepäck – und der weltliche Herrscher in diesem fernen Land (es gehörte aber zum damaligen Deutschen Reich) gehorcht. Welch eine Macht dieser Abt doch hatte! Und worauf gründete sie? Auf einem Glauben, der alles andere war als das, was wir heute als „Glauben“ bezeichnen: auf der tiefen Überzeugung, dass dieser Auftrag von Gott persönlich kommt, und auf der wahrscheinlich noch tieferen Angst vor der Hölle, der ewigen Verdammnis, wenn man einem solchen Auftrag nicht gehorcht. Denn der Bau eines solch großen Klosters war damals sicher eine ebenso große Aufgabe wie heute der Bau eines Flughafens.
Ich komme zurück zum Jakobsweg. Genau wie den böhmischen König drückte auch die ursprünglichen Jakobspilger die abgrundtiefe Angst vor der Hölle. Wer sich auf den – damals noch unendlich viel mühsameren und gefährlicheren – Weg nach Santiago de Compostela machte (man konnte auch nach Bewältigung des Hinweges nicht mal schnell mit dem Flieger oder der Bahn zurückreisen), für den ging es buchstäblich um alles oder nichts, um das ewige Leben oder die ewige Verdammnis. Was heute ein außergewöhnliches, subjektiv wahrscheinlich als sehr tief empfundenes Erlebnis ist, war damals schiere geistige Not oder das jedes andere Bedürfnis in den Schatten stellende absolute Begehren, in den Himmel zu kommen.
Es geht mir hier aber weder um den Jakobsweg noch um ein tschechisches oder deutsches Kloster. Beides sind nur Beispiele für eine Entwicklung, für die man zurecht das heute inflationär gebrauchte Wort Zeitenwende benutzen kann. Was heute so genannt wird, sind Modeerscheinungen, mal ist Kriegsstimmung, mal ist Frieden angesagt. Eine wirkliche Zeitenwende ist etwas ganz anderes: ein Bruch in der Art und Weise des In-der-Welt-Seins, unserer Sicht auf die Welt und das Leben.
Auch das einst so mächtige Kloster Steinfeld, wo in meiner Schulzeit in den 1960er Jahren noch 20-30 Patres und Brüder ein Gymnasium mit Internat und Konvikt betrieben, existiert nur noch, weil ein reicher Geschäftsmann und Freund des Klosters es für 99 Jahre gepachtet hat und dort jetzt – im ehemaligen Internat – ein schickes Hotel mit Seminarbetrieb eingerichtet hat, das von einer GmbH betrieben wird, während die verbliebenen vier oder fünf Patres im fortgeschrittenen Rentenalter sich mühen, die Gottesdienste in der berühmten Basilika noch zu zelebrieren. Die Welt der Klöster und Pilgerfahrten existiert nicht mehr, oder, noch präziser mit Nietzsche: Der Gott, der damals jede Faser des Lebens der Menschen in Europa bestimmte, ist tot. Mausetot, kein Fitzelchen von ihm ist übriggeblieben.
Das ist die Zeitenwende. Sie begann mit der Aufklärung und vollendete sich in der Kulturrevolution Ende der 1960er Jahre. Was Nietzsche um 1880 herum schon verkündete, erreichte jetzt alle Schichten der westlichen Welt: Gott, um den sich das Leben in Europa seit über tausend Jahren – und, wenn man die alten Götter noch hinzunimmt, in der gesamten Menschheitsgeschichte – gedreht hat, ist, in Nietzsches Worten, „tot“. In der Kirche wird nur noch seine Leiche angebetet. Und wer sich auf den Jakobsweg begibt, will nicht mehr Gott nahekommen, sondern sich selbst. Gott ist nicht mehr im Himmel, er ist in den Menschen gewandert. Wenn er noch irgendwo zu finden ist, dann dort.
Veröffentlicht am 14.08.2024.