IMPRESSIONEN AUS EINEM UNBEKANNTEN LAND
Von Wilfried Nelles
Nach vier Corona-Jahren bin ich wieder in China, genauer: in Peking. 2008 war ich zum ersten Mal in „Mainland China“, wie man in Taiwan sagt, im Mutterland. Dort, in Taiwan, hatte ich meine erste Begegnung mit der chinesischen Kultur, das war 2004. Seitdem war ich jedes Jahr dort, zumeist zweimal für mehrere Wochen, sowohl in Taiwan als auch im Mutterland, der angeblich kommunistischen Volksrepublik. Von Kommunismus habe ich dort allerdings nichts wahrgenommen, im Alltag ist der einzige Unterschied zwischen Taiwan und der VR China, dass in Taiwan der amerikanische (und japanische) Einfluss spürbarer ist und dass es ansonsten wie der kleine Bruder des großen Nachbarn erscheint. In der Volksrepublik ist alles größer und mächtiger und ich spüre eine Kraft, die dem kleinen Taiwan (es hat weniger Einwohner als Peking, das nur die drittgrößte Stadt in China ist) abgeht.
Ich bin Sozialwissenschaftler und Psychologe und wurde 2004 nach Taipeh eingeladen, um meine Arbeit dort vorzustellen, und da sie großen Anklang fand, wurde daraus eine kontinuierliche Partnerschaft mit einigen Freundschaften. Da sich China damals immer mehr für Taiwan öffnete und auch die damalige taiwanesische Regierung den Öffnungsprozess förderte, kamen nach und nach auch Menschen vom Festland in meine Kurse. Noch mehr Taiwanesen, darunter einige Freunde von mir, gingen nach China, das heißt, sie verließen das demokratisch-kapitalistische Taiwan, um im „kommunistischen Überwachungsstaat“ zu arbeiten und zu leben. In unserem letzten Ausbildungskurs waren zwei Taiwanesen – einer lebt schon lange in Shanghai, die andere, eine Ärztin, kam immer aus Kaohsiung im Süden Taiwans zu den Kursen nach Peking geflogen. Sie sind Chinesen und fühlen sich in China zu Hause.
Irgendwann schlug mir ein Kollege aus Hongkong vor, für mich einige Seminare in der Volksrepublik zu organisieren. Meine erste Station war Shenzhen, die erste „Freie Wirtschaftszone“, die Maos faktischer Nachfolger Deng Xiaoping direkt neben dem kapitalistischen Hongkong 1980 eingerichtet hatte. Deng hat den Wandel von einer ideologischen zu einer pragmatischen Politik vorangetrieben, die die Grundlagen für das moderne China schaffte, und dabei auf Experimente gesetzt und Auslandschinesen, vor allem aus Hongkong, ermutigt, in China zu investieren. Shenzhen, damals eine kleine Hafenstadt mit rund 30.000 Einwohnern, wurde innerhalb von zwei Jahrzehnten zu eine Wirtschaftsmetropole und hypermodernen Großstadt, die heute etwa 20 Millionen Einwohner hat (genau weiß man das in China nicht, weil viele unangemeldet in den Großstädten leben und arbeiten – es wird zwar fast alles aufgezeichnet und „überwacht“, aber kaum wirklich kontrolliert).
Die jetzige Reise ist für mich eine besondere, mit ihr geht meine Arbeit in China zu Ende. Tatsächlich ist sie mit Corona zu Ende gegangen, aber ich wollte noch einmal meine Freunde und Studenten besuchen, um mich gebührend von ihnen zu verabschieden.
Ich bin jetzt 75 und möchte nicht mehr so viel, so weit und so lange reisen, und die politische Lage in und um China herum macht die Arbeit unseres Instituts dort auch nicht einfacher. Eine über drei Jahre gehende Ausbildung durchzuführen, wie wir dies vor Corona gemacht haben, ist derzeit mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet. Gerade im kulturellen Bereich ist die chinesische Regierung gegenüber Angeboten aus dem Westen – aus meiner Sicht verständlicherweise – sehr misstrauisch geworden, und die USA scheinen darauf hinzuarbeiten, dass China sich zu einer militärischen Annexion von Taiwan verleiten lässt. Auch deshalb haben wir beschlossen, unsere Arbeit dort zunächst einmal ruhen zu lassen, was für mich persönlich bedeutet, mich aus China ganz zurückzuziehen. Ich wollte allerdings nicht sang- und klanglos verschwinden, und da in diesen Tagen noch ein Buch von mir veröffentlicht wurde, bot es sich an, zur Buchvorstellung noch einmal dorthin zu reisen und mich dabei gebührend zu verabschieden. So sitze ich denn im heißen Pekinger Spätsommer und lasse die neuen wie die alten Eindrücke von rund 15 Jahren China noch einmal Revue passieren.
Als ich, es war wohl 2010, zum ersten Mal in Peking war, konnte man kaum die Sonne sehen. Selbst bei klarem Wetter sah man nur einen verschleierten rötlichen Ball im Smogdunst. Wie anders heute: Vorgestern war Vollmond, er war klar wie in der Eifel und schien zum Greifen nah. Und tagsüber oft blauer Himmel und knackiger Sonnenschein bei über 30 Grad. Das war auch vor vier Jahren schon so. Damals waren die Taxis aber noch ältere VW- oder Toyota-Modelle. Die gibt es nicht mehr. Abgesehen von einigen wenigen Hondas (vermutlich Hybride) waren alle Taxis, die ich gesehen habe, neue Elektromodelle der Marke „Beijing“. In vier Jahren ist die gesamte Flotte ausgetauscht worden, wobei die Taxen privat und nicht vom Staat betrieben werden. Der Strom und die Steuern für Elektrofahrzeuge sind so günstig, dass es sich für die Taxiunternehmen lohnt. Und die neuen chinesischen Autos sind auch viel billiger als die Importmarken.
Dabei muss man sich klarmachen, dass in Peking wahrscheinlich so viele Taxen fahren wie in ganz Deutschland. Es gibt in Europa nur fünf Länder, die mehr Einwohner haben als Peking (offiziell sind es 22 Millionen, tatsächlich jedoch, wie mir Eingeweihte sagten, über 30). Auch sonst: Die Autos sind inzwischen weitgehend chinesische Modelle, nur einige Japaner, Tesla und vor allem die deutschen Premiummarken halten noch mit, allerdings nur im Segment der Oberklasse. Die Chinesen zeigen halt gerne ihren Reichtum – und reich sind sie.
Gestern war ich zum Essen in ein angesagtes vegetarisches Restaurant eingeladen – wir sind vom nördlichen Peking über eine Stunde lang nach Süden gefahren, es waren wohl rund 20-30 Kilometer über 3-6-spurige Straßen (in eine Richtung), überwiegend im Schneckentempo. Für geschätzte Gäste ist den Chinesen kein Weg zu weit und kaum ein Geschenk zu teuer. Die meiste Zeit über sind wir durch Wolkenkratzer gefahren. Ich bin ein Landkind und kein Freund von Hochhäusern, in China könnte man aber einer werden. Es sind durchweg ästhetische architektonische Meisterwerke von großer Vielfalt, keine dumpfen Betonklötze, und es geht eine überwältigende Botschaft von ihnen aus: Seht her, wozu wir in der Lage sind. Das gilt besonders für die hunderte Meter hohen Prunkbauten, in denen die großen Weltfirmen, Hotels, Banken und Versicherungen residieren – alles, was im Weltmarkt Rang und Namen hat, ist hier vertreten. Gigantismus ist in China kein abwertendes Wort, kaum etwas kann groß und prächtig genug sein. Das beginnt bei der kleinsten Verpackung und endet bei den Hochhäusern oder Großereignissen wie der Olympiade.
Wie schon so oft war ich auch diesmal wieder völlig überwältigt von den gewaltigen Eindrücken des modernen China. Dass Amerika hier seine Felle fortschwimmen sieht, ist für mich völlig klar. Was der Ökonom und Chinakenner Wolfram Elsner mit klarem ökonomischem Sachverstand und ideologisch unverstelltem Blick in seinem Buch „Das chinesische Jahrhundert“ beschrieben hat, entspricht voll und ganz meinem Erleben und meinen Erfahrungen aus Gesprächen mit Freunden und der Arbeit mit über tausend Klienten: China ist die kommende Weltmacht. Dass unsere Regierung das ignoriert und glaubt, sich davon abkoppeln und den Chinesen sogar Vorschriften machen zu können und sich stattdessen völlig an das untergehende Schiff USA ausliefert, zeugt nicht gerade von politischer Weitsicht. In dem Hotel, in das ich gestern eingezogen bin, sind rund 80 Prozent der Gäste afrikanische Geschäftsleute – auch das ist ziemlich neu. Mein langjähriger Übersetzer und Freund Cheng eröffnete mir vor einigen Tagen, dass er jetzt in Diensten einer chinesischen NGO in Afrika für Solarenergie wirbt, er kam gerade aus Kenia zurück. Afrika lässt sich – im Gegensatz zu Deutschland – nicht mehr vorschreiben, mit wem es Handel betreibt.
Gestern kam mir wieder derselbe Gedanke wie bei meiner ersten Fahrt durch Peking: Was würde Mao wohl dazu sagen? Ist das das China, von dem er geträumt, für das er gekämpft und Millionen mit dem Tod hat bezahlen lassen? Prada, Gucci, Versace, Mercedes, Rolex, Hilton, Landmark …? Und dann erst die vielen Nobelkarossen? Die Geschichte geht immer ihre eigenen Wege und schert sich nicht um die Ideen derer, die die Welt verändern wollen.
Von einem hat er aber wohl sicher geträumt: dass seine Landsleute nicht mehr hungern müssen, und das haben seine Nachfolger – nicht er selbst und seine ergebenen Jünger, sondern die, die sich getraut haben, andere Wege zu gehen – erreicht. China ist reicher als reich, und selbst die Ärmsten haben heute zumindest das Lebensnotwendige und müssen nicht – wie etwa im benachbarten „demokratischen“ Indien – in Slums dahinvegetieren. War das Bruttosozialprodukt 1980 noch halb so groß wie in Indien, ist es heute doppelt so hoch. Das wohl fundamentalste aller Menschenrechte, genug zu essen zu haben, ist in China verwirklicht. Anders als in vielen mit dem Westen befreundeten Ländern, die teils sogar als Demokratien gelten, muss sich hier auch niemand mit Drogenhandel, Prostitution und krimineller Gewalt über Wasser halten.
Dazu musste man – den Anfang hat der listige Pragmatiker Deng Xiaoping gemacht – aber zuerst den Kapitalismus wieder einführen und gewähren lassen. Bei den Großbetrieben ist das zwar weitgehend ein Staatskapitalismus, aber im unteren und mittleren Wirtschaftssegment kann jeder sein eigenes Geschäft machen.
Über die Arbeitsbedingungen kann ich nur sagen, dass sie in den Kleinbetrieben, die ich gesehen habe, ausgezeichnet waren, ebenso wie die hygienischen Standards in den Restaurants. Bei den Größeren mischt sich der Staat inzwischen aber wieder mächtig ein – die Goldgräberzeit des Laissez-Faire-Kapitalismus ist vorerst vorbei.
Die von der sehr großen Mehrheit der Bevölkerung begrüßten Bemühungen von Xi Jinping, die ausufernde Korruption – vor allem im jahrzehntelang boomenden Bausektor – zu bekämpfen, hatten eine Schattenseite: Um sein Programm durchzusetzen und politisch zu überleben, musste Xi Jinping viele Rivalen ausschalten und so viel Macht wie möglich in die Zentrale holen und auch auf seine Person ausrichten. Der Zentralstaat ist in China längst nicht so mächtig, wie man in Deutschland glaubt, und das gilt wohl auch für die Parteizentrale – die unseren Bundesländern vergleichbaren „Provinzen“ und auch die großen Städte haben durchaus eine eigene Machtbasis und einen recht großen Handlungsspielraum. Inzwischen scheint der zunehmende Staatseinfluss die Wirtschaft zu lähmen und zu einer allgemeinen Verunsicherung geführt zu haben. Das rigoros-brutale Vorgehen bei den Lockdowns hat meinen Freund Tang sogar an die Kulturrevolution erinnert, wobei er selbst den Lockdowns aber immer erfolgreich ausgewichen ist (s.u.).
Auf der Rückfahrt kamen wir an einem Unfall vorbei, es sah nach einem kleinen Blechschaden aus. Dabei schimpfte ein Autofahrer laut und heftig gestikulierend auf den Polizisten ein, der den Unfall aufnahm. Von wegen Angst vor der Obrigkeit. Auch in den Jahren zuvor habe ich dies des Öfteren beobachtet – niemand läuft hier mit gesenktem Haupt umher und wagt es nicht aufzubegehren. Das mag in der großen Politik und in den Regionen, wo es Abspaltungstendenzen gab oder gibt (Tibet, Xinjiang) anders sein, aber im Alltag habe ich in China in 15 Jahren so gut wie nichts von Unterdrückung und einem geknechteten Volk wahrgenommen. Das gilt auch für meine Seminare:
Ich hatte – anders als
etwa in Malaysia oder Singapur – nie den Eindruck, dass die Teilnehmer es nicht wagten, offen zu sprechen. Dabei kamen durchaus brisante Themen – etwa aus der Zeit der Kulturrevolution – zur Sprache. Und ich bin mehrfach live im Internet interviewt worden und habe Fragen der Nutzer beantwortet, ohne dass dies jemand zensiert hätte.
Mir scheint, dass es in China zwei Tabuthemen gibt, wo man öffentlich besser den Mund hält:
- Die Führungsrolle der kommunistischen Partei,
- Die Einheit Chinas, wozu auch alle Fragen um Taiwan, Hongkong und Tibet gehören.
Soweit diese beiden Themen nicht davon berührt werden (wie in Tibet oder bei den Uiguren), spielt die Religion oder die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle. Nur wenn diese mit der Idee der Abspaltung von China verknüpft sind, kennt Peking keine Gnade. Bei den Uiguren kommt hinzu, dass es dort islamistische Terrorzellen gab, die u.a. Bombenanschläge auf große Bahnhöfe durchgeführt haben. Wie es heute dort aussieht, weiß ich nicht. Den Berichten westlicher Medien traue ich nicht, die schreiben nur das, was in ihre China-Agenda passt, aber dass die chinesischen Sicherheitsbehörden kein Pardon mit denjenigen kennen, die sie als ihre Feinde ausgemacht haben, ist sicher richtig. Das ist in Ländern, die sich der Freundschaft des Westens erfreuen (Indien, Pakistan, Saudi-Arabien, Türkei, um nur einige zu nennen) aber kaum anders, und wie es denen ergeht, die die USA ernsthaft herausfordern, kann man bei Julian Assange oder Edward Snowden und auch immer noch in Guantanamo besichtigen – wenn denn dort jemand etwas besichtigen dürfte.
Ansonsten herrscht in China sowohl völlige Religionsfreiheit als auch eine große kulturelle Autonomie der über 50 verschiedenen ethnischen Gruppen, die alle ihre eigene Kultur und Sprache pflegen, und zwar nicht nur als Folklore. Was Taiwan und Tibet betrifft, ist es für den normalen Chinesen ohnehin klar, dass sie zu China gehören, egal, wie er zur Regierung steht. Ich war im Lama-Tempel, der größten tibetischen Tempelanlage außerhalb von Tibet, gebaut ab 1700, um die enge Verbindung zwischen dem Kaiser und dem tibetischen Lamaismus zu unterstreichen, und war erstaunt, wie viele junge Leute dort beteten.
„Das sind Studenten, die um einen Job beten“, sagte mir mein Freund und Führer Tang, „für Akademiker ist die Jobsituation recht schwierig“. In Deutschland würden Studenten wohl kaum in die Kirchen strömen. Der Buddhismus lebt auch im postkommunistischen China noch, und nicht nur bei den Alten.
In den ersten Jahren habe ich mich immer fürchterlich geärgert, wenn ich in einer deutschen Zeitung etwas über China gelesen habe. Mehr Desinformation geht kaum. Nicht, dass alles falsch wäre, was dort steht, man lügt viel effektiver durch Auslassen und Betonen. Es wird halt das herausgehoben, was ins ideologische Bild passt, und alles andere weggelassen. Das Gesamtbild, das so entsteht, hat mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun. Wie immer gibt es Ausnahmen, hin und wieder wagt jemand, etwas Positives zu veröffentlichen, wie etwa die Berliner Zeitung im November 2023 über das Sozialpunktesystem, das eher der Transparenz am Markt und dem Schutz vor Betrug gilt als der Kontrolle der Bürger (wie es in unseren Medien üblicherweise dargestellt wird).
Es ist allerdings nicht einfach, über China zu schreiben, ohne dass ein falsches Bild entsteht. Das Land ist so widersprüchlich, dass es in keinen europäischen Verstand passt. Zu allem, was man sagt oder gerade glaubt entdeckt zu haben, existiert auch das Gegenteil. Wer hier nach Eindeutigkeit sucht, wer China in eine Kategorie stecken will oder gar schnell ein Urteil fällt, verpasst die Wirklichkeit. Ich wage es nach 15 Jahren mit Aufenthalten in rund einem Dutzend Städten, als Gast in privaten Haushalten und kleinen Unternehmen und therapeutischen wie privaten Gesprächen mit über tausend Kursbesuchern und Freunden nicht zu sagen, „China ist so oder so“. Alles, was ich sagen kann, ist: Es ist anders, ganz anders, als fast jeder in Deutschland denkt.
Auf dem Weg zum Abendessen komme ich an einer Filiale der „Bank of China“ vorbei, selbstverständlich ein imposantes Gebäude mit einem großen Platz davor. Es ist kurz vor sechs, in China wird früh gegessen. Auf dem Platz spielen kleine Kinder, die Großeltern (die sich hier meist um die Kleinen kümmern) und einige Eltern sitzen entspannt auf den Treppenstufen. Überhaupt: Die Menschen in Peking – und mehr noch in Südchina – wirken sehr gelassen. Auf den Gehwegen wie auch im Straßenverkehr ist kaum Hektik zu spüren, alle schlängeln sich im gemütlichen Tempo durchs Gewühl – die meisten mit Blick aufs Handy -, ohne aneinander zu stoßen. Die Radfahrer und die lautlosen Elektroroller und -mopeds fahren, wo sie wollen und in jede Richtung, jeder versucht, sich vorzudrängen, aber von der Aggressivität, wie sie in deutschen Städten herrscht, keine Spur. Man hat immer einen Blick dafür, was die anderen tun, wie sie sich bewegen, und passt sich an – wie auf den großen Ameisenstraßen, wo keine Ameise mit einer anderen kollidiert. Die Autofahrer halten sich zwar eher an die Regeln, was sie aber nicht davon abhält, auf einer stark befahrenen Straße zu wenden – die anderen nehmen es hin und halten an. Aber niemand lässt den anderen vor oder bremst für ihn, solange dieser nur wartet – nur wer seine Nase am weitesten nach vorne streckt, kommt durch. Vorfahrt hat in China der, der vorfährt.
Auf dem Rückweg eine Stunde später hat die Besetzung vor der Bank gewechselt. Statt Großeltern mit Kindern tanzen dort jetzt Erwachsene mittleren Alters, überwiegend Frauen, aber nicht nur. Eine gibt die Vortänzerin, sie hat auch die Musik dabei, und die anderen folgen ihrer Choreografie. Es wirkt wie perfekt einstudiert, schließlich trifft man sich hier fast jeden Abend. Manchmal tanzt man in einer Gruppenchoreografie zu chinesischer Popmusik, manchmal zu Volksmusik. Alle genießen die gemeinsame Bewegung, das Aufgehen des Einzelnen in der Gruppe. An anderen Orten wird inmitten der Hochhäuser und Geschäfte und natürlich auch in Parks abends Tai Chi oder Xi Gong praktiziert. Im Sommer sitzen die Rentner in den Parks oder auch mitten im Geschäftsviertel auf mitgebrachten kleinen Klappstühlen und Tischchen bei Kartenspiel oder Majong, dem chinesischen Brettspiel, und daneben machen vielleicht einige Musik und singen dazu – immer mit Mikrophon, man liebt die Performance.
Diesen Text hier, zumindest den Anfang, schreibe ich in einem schicken modernen Café, das inmitten eines großen Lotusteiches steht. Zweihundert Meter weiter, am anderen Ende des Teiches, steht eine Pagode, in der gestern alte Männer Saxophon und Klarinette spielten, während eine Frau dazu mit wunderschöner Stimme ein altes chinesisches Lied sang. Als ich näherkam, um ihnen zuzuhören, hat sie mir freundlich zugewunken. Diese Freundlichkeit erlebe ich überall, vor allem von den Älteren.
Aus den Boxen des Cafes klingt Kaffeehaus-Jazz, ich sitze abwechselnd in einem Separee mit bequemen Sesseln oder, wenn es nicht mehr so heiß ist, draußen auf dem breiten Holzsteg. Leider – oder soll ich sagen: Gottseidank? – kann ich im Internet keine deutschen Zeitungen lesen, der ganze Mainstream ist gesperrt. Das ist natürlich dumm, die deutschen Besucher und Geschäftsleute, die gerne ihre Zeitung lesen würden, dürften keine Gefahr darstellen, und Chinesen können das ohnehin nicht lesen – aber Zensoren waren immer schon dumm. Nur die „Querdenkerportale“ wie reitschuster.de, Manova (rubikon), Multipolar und andere sind zugänglich – und der „Kicker“. Wenn Uli Hoeneß laut rülpst, bekomme ich das auch in Peking mit.
Das Publikum im Cafe ist jung und wohlhabend, die Frauen tragen superschicke Kleider, eine kleine Kanne Tee von einer Spitzensorte – chinesische Tees sind für mich die besten der Welt, aber oft auch sündhaft teuer – kostet 15 Euro (dafür kann man sich nebenan auf dem Nachtmarkt rund und satt essen und trinken), aber das ist allein der Platz hier wert. Und der Tee ist ausgezeichnet.
Auch die Teilnehmer unserer Kurse sind überwiegend jung und wohlhabend, im Durchschnitt zwischen 30 und 45 Jahre alt, zehn Jahre jünger als in Europa. Fast alle sind Akademiker(innen), Ärzte, Pädagogen, Psychologen oder Unternehmerinnen. Auch Staatsbeamte und Parteimitarbeiter, ein Staatssekretär aus dem Bildungsministerium und zwei Armeeoffiziere waren darunter, und zwar nicht als Beobachter. Eine – eine junge Frau – hat nach der Ausbildung bei uns ihren Armeedienst quittiert. Unsere Partnerin, die unsere Kurse organisiert, die Übersetzung und Publikation meiner Bücher in die Wege geleitet hat und unser Institut in China vertritt, ist Inhaberin mehrerer Kindergärten. Sie hat über 70 Angestellte. Ihre Kindergärten arbeiten nach dem ganzheitlichen Ansatz von Maria Montessori, der großen italienischen Pädagogin. Auch Waldorf-Kindergärten sind bei denen, die es sich leisten können, sehr beliebt. Es gibt auch Waldorf-Schulen in allen großen Städten, allerdings ohne staatlich anerkannten Abschluss. Im Übrigen gibt es in China keine Schulpflicht, man kann seine Kinder auch selbst unterrichten.
Mein erstes Buch in China ist in einem Verlag publiziert worden, der u.a. Rudolf Steiner, Ken Wilber und Jiddha Krishnamurti im Programm hat. Was die Zensur erlaubt und was nicht, scheint mir recht zufällig zu sein. Von sechs übersetzten Büchern wurde eines nicht zur Veröffentlichung freigegeben, leider ausgerechnet mein wichtigstes. Es steht aber nichts politisch Anstößigeres drin als in den anderen, wahrscheinlich hat es nur ein anderer Bürokrat entschieden. Jetzt wird es in Hongkong gedruckt und von dort seinen Weg zu den Lesern im übrigen China finden. So ähnlich, wie die Reicheren während der 1-Kind-Politik nach Hongkong gereist sind, wenn ein zweites Kind im Anmarsch war, das dann zufällig dort geboren wurde, aber dann ohne weiteres zu Hause als chinesischer Staatsbürger registriert werden konnte.
In Deutschland gibt es keine Behörde, die meine Bücher zensiert. Das machen die Verlage selber – und die Zeitungen sowieso. Da ich mich darin sehr kritisch zur Corona-Politik, zur Gender-Ideologie und anderen heiligen Kühen des Zeitgeistes geäußert und diesen selbst in seinen Grundlagen analysiert habe, habe ich für mein letztes Buch „Im Namen des Fortschritts“ keinen Verlag gefunden. Bei längerer Suche hätte es wahrscheinlich einen gegeben, aber ich wollte nicht betteln gehen und habe daher kurzer Hand einen eigenen Verlag gegründet. Das wäre in China wohl nicht so einfach gewesen, aber auch nicht unmöglich. Seit Corona ist aber alles enger und strenger. Die chinesische Regierung weiß wohl genau, dass das Virus aus dem Labor in Wuhan stammt. Wer immer dafür verantwortlich war, die dort forschenden Amerikaner oder ihre chinesischen Kollegen, klar ist, dass die Kontrollen nicht funktioniert haben. „Jeder hat Angst, einen Fehler zu machen und damit seiner Karriere zu schaden, das lähmt die Wirtschaft“, sagte mir mein Freund Tang, selbst Unternehmer und politisch bestens informiert, da er aus einer hohen Beamtenfamilie stammt, sein Vater war Botschafter in Deutschland und ein Onkel General in Maos Armee.
Tang, der in Deutschland studiert und als Ingenieur gearbeitet hat und jetzt Inhaber einer metallverarbeitenden Firma mit mehreren hundert Mitarbeitern ist, ist einige Male als Übersetzer bei unseren Kursen eingesprungen. Er hat einen lustigen schwäbischen Akzent, da er sein Deutsch überwiegend am Arbeitsplatz in Stuttgart gelernt hat. Einmal, so erzählt er, hat er bei einem privaten Essen für den damaligen DDR-Parteichef Egon Krenz und den chinesischen Wirtschaftsminister gedolmetscht. Krenz habe dabei versucht, dem chinesischen Kollegen u.a. mithilfe von Marx-Zitaten marxistische Wirtschaftslehre beizubringen, ohne zu merken, dass dies den Chinesen überhaupt nicht interessierte. „Die marxistische Lehre“, sagt Tang, „interessiert hier niemanden, es versteht sie auch kaum jemand.“ Stattdessen wird an den Universitäten und Parteihochschulen moderne Wirtschaftstheorie und Management gelehrt. Das sind Kaderschmieden, in denen man Leistung bringen muss, um nach oben zu kommen, auch wenn Beziehungen in China (innerhalb wie außerhalb der Partei) nach wie vor eine herausragende Rolle spielen. Einen Minister, der nichts Gescheites gelernt und keinen hohen Studienabschluss oder entsprechende Berufspraxis hat, dürfte es in China nicht geben.
Zur Buchvorstellung kommen viele Absolventen unserer Ausbildung. Ich frage sie, was sie in der Corona-Zeit gemacht haben und wie es ihnen ergangen ist. Covid hatten fast alle, die meisten erst im Winter 2022-23. Beim Arzt war jedoch kaum jemand, und offizielle Tests haben sie auch gemieden. Wenn der Selbsttest positiv war, sind sie einfach zu Hause geblieben und haben sich mit Kräutern aus der traditionellen chinesischen Medizin, die immer noch hohes Ansehen genießt, versorgt. Geimpft waren die meisten auch nicht, es gab, anders als hier, keinen Zwang, auch keinen indirekten. Tang berichtete, dass er schnell die Stadt oder den Stadtteil gewechselt hat, wenn er las, dass irgendwo jemand positiv getestet worden war und ein Lockdown vor der Tür stand. Er war nie eingesperrt. Da die Chinesen ständig online sind und aufs Handy schauen, wusste er immer recht schnell Bescheid und hat das Weite gesucht. Cheng, einer unserer erfolgreichen Schüler, war während der gesamten Coronazeit im Land unterwegs, hat in Hotels gewohnt, in Restaurants gegessen und Seminare durchgeführt – ungeimpft, ungetestet und ganz legal.
China ist kein Musterland, aber auch kein Monsterland. Ich habe mich dort immer wohlgefühlt – und die Küche ist für mich eindeutig die beste und vor allem vielseitigste der Welt. Ich weiß nicht, wie es im Geschäftsleben zugeht – doch, eines weiß ich: Wer nicht hart verhandelt, ist selbst schuld. Man muss seine Interessen schon kennen und entschieden vertreten, wenn man mit Chinesen Geschäfte macht. Wie jeder Händler suchen sie ihren Vorteil und lassen sich nicht in die Karten blicken. Dann sind sie aber überaus ehrlich und fair. Und was die „kleinen Leute“ und die gebildete Mittelschicht betrifft, mit denen wir überwiegend zu tun hatten: Mehr Freundlichkeit und, ja, Liebe habe ich nirgendwo erfahren. Wo immer ich war, die Menschen waren offen und freundlich bis zur Herzlichkeit, und zwar ganz ungekünstelt.
Und in den privaten Haushalten, wo ich zum Essen eingeladen war, ging es so zwanglos zu, wie ich es nirgendwo sonst erlebt habe. Freunde bewegten sich in der Küche, holten sich Speisen und Getränke aus dem Kühlschrank oder kochten, als ob es ihre eigene Küche wäre. Manchmal wusste ich nicht, wer zum Haushalt gehört und wer nicht.
Zum Schluss noch eine politische Anmerkung: Wir – damit meine ich nicht nur unsere Obermissionarin Annalena Baerbock, sondern uns alle – haben unsere missionarisch-koloniale Haltung gegenüber China noch immer nicht abgelegt. Wir halten uns immer noch für die Besseren, Klügeren und vor allem die moralisch Überlegenen. Dabei zeigt einem das moderne China täglich, dass es uns zumindest an Klugheit inzwischen weit voraus ist. Die Chinesen sind sich nicht zu schade und nicht zu stolz, von uns – und hier ganz besonders von den Deutschen, die sie immer noch bewundern – zu lernen, wo es etwas zu lernen gibt. Deutschland, unsere Politiker zumal, ist aber viel zu hochmütig, um zu sehen und anzuerkennen, was die Chinesen besser können als wir und von ihnen zu lernen. Das gilt nicht nur beim Bau von Flughäfen und anderen Großprojekten oder einer bis auf die Minute pünktlichen, bequemen und superschnellen Eisenbahn mit erstklassigem Essens- und Getränkeservice, sondern auch im Bereich der Ökologie und des nachhaltigen Wirtschaftens. Nur ein Beispiel, das ins Auge fällt: In China wird keine neue Autobahn oder Schnellstraße gebaut, ohne dass in der Spurmitte und an den Rändern 10 – 50 Meter breite Grünstreifen voller Bäume gepflanzt werden, während hier die Fahrbahnmitte mit Beton versiegelt wird. Und mit Solar- und Windenergie wird in China ernstgemacht, sie sind darin weltweit führend, ohne das ganze Land mit Windrädern vollzustopfen – sie machen das einfach dort, wo die Sonne scheint und der Wind weht. Unser Hochmut gegenüber den „Gelben“ ist, auch wenn man das Wort „Gelbe“ nicht mehr in den Mund nimmt, reinster Kolonialismus – und eine große Dummheit.
Wilfried Nelles, 23.11.2023