Nein zu Prüfungen! Plädoyer für eine wilde Aufstellungsarbeit *

Nein zu Prüfungen! Plädoyer für eine wilde Aufstellungsarbeit *

Interview mit Malte Nelles

Kontext

Der Beitrag bezieht sich auf einen Fragenkatalog der Redakteurinnen der Praxis der Systemstellung, Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz. Es ging dabei hierum um die Frage, ob Ausbildungen in Aufstellungsarbeit zukünftig mit einer verbindlichen mündlichen, schriftlichen und praktischen Abschlussprüfung abgeschlossen werden sollen. Hierzu hat man jeweils einen Vertreter zur Pro- und Contra-Position gebeten auf die Fragen einzugehen. Der Beitrag für die Einführung verbindlicher Prüfungen stammt vom 1. Vorsitzenden der DGfS, Thomas Hafer. Ich habe mit Freude unsere Gegenposition begründet. Mit Thomas Hafer gab es im Anschluss einen guten und herzlichen Austausch zum Thema. Erschienen ist mein Beitrag ursprünglich in:  Kerstin Kuschik, Kirsten Nazarkiewicz (Hg.): Aufstellungen lernen und lehren, Praxis der Systemaufstellung, Vandenhoeck & Ruprecht, 2022.

Vorbemerkung

Der Text entstand im März 2021. Vielleicht mag man mir die gelegentliche Schärfe und Provokation darin verzeihen, da es bei dem Thema »Prüfungen« um Freiheit geht, konkreter die Lehrfreiheit der betreffenden Institute. Meine Gedanken zu den Fragen erfolgten in der äußerlich unfreiesten Zeit meines Lebens. Da ich selbst den Entzug der Freiheit keinesfalls als »alternativlos«, sondern als Auswuchs bürokratischer Diktate erlebte, ist es mir ein Herzensanliegen, dieser Form von Verregelung auch in unserer Arbeit, z. B. durch formale, für alle verbindliche Prüfungen, entschieden entgegenzutreten.

Wie stehst du zu folgender Aussage: »Am Ende einer quali­fizierten Weiterbildung zur Aufstellungsarbeit sollte eine schriftliche, praktische und mündliche Prüfung stehen«?

Mein Standpunkt diesbezüglich ist sehr einfach: Ich bin von Herzen dagegen. Es gibt auch etwas, wofür ich in der Frage bin: Vertrauen. Vertrauen in die Menschen, die zwei oder mehr Jahre bei uns eine Weiterbildung besucht haben; Vertrauen in das, was ich diesen Menschen vermittelt habe, weniger durch das, was ich an hehren Werten zitiert habe, sondern an der gelebten Weise, die durch meine Praxis und die theoretische Vermittlung meiner Arbeit in Geist und Herz der Teilnehmer sinken konnte; und zu guter Letzt und allgemein: Vertrauen in die freie Selbstentfaltung des Lebens an sich.

Denn als Aufsteller ist dies meine wichtigste Schlüsselqualifikation. Wenn ein Aufstellungsprozess losgeht, gebe ich alle Kontrolle darüber ab, was dabei rauskommt. Ich weiß nicht, wer da sitzt. Ich weiß nicht, was die Stellvertreterinnen zeigen werden und wohin es geht. Ich klammere mich auch nicht an die »gute Lösung«, die viele Praktiker immer noch ersehnen, sondern bin bereit, mich auf die Unverfügbarkeit (Hartmut Rosa) des Aufstellungsprozesses einzulassen. Aufstellungen in diesem phänomenologischen Sinn sind eine Reise ins Ungewisse. Formale, für alle Anbieterinnen vorgeschriebene Prüfungen sind eine Bankrotterklärung an dieses Prinzip des Vertrauens, das für mich das Spannendste und Wertvollste ist, was wir Menschen als Lebenshaltung mit unserer Arbeit vermitteln können. Formale Prüfungen sind zudem eine Entwürdigung des freien Geistes. In der Prüfung wissen wir vorher, was richtig ist. Das ist das genaue Gegenteil einer phänomenologischen Haltung, die viele von uns nach wie vor für ihre Arbeit zumindest dem Namen nach beanspruchen.

All die großen, »alten« Aufsteller haben keine Prüfung abgelegt. Sie konnten und können es trotzdem. Im Falle von Bert Hellinger wissen wir, dass er auf seine Zulassung zum Psychoanalytiker verzichtet hat, weil er sich mit der Primärtherapie nach Janov beschäfigte. Er war sich selbst treu, nicht dem Dogmatismus seines Lehrinstituts. Die Aufstellungsarbeit wurde von einem freien Geist geschaffen. Sie heute in das Prokrustesbett einer »qualifizierten Ausbildung mit Abschlussprüfung« zu zwingen, nähme ihr das letzte vom anarchischen, lebendigen Wesen, das ihr innewohnt.

Wenn es eines gibt, was an Aufstellungen heilsam ist für uns moderne Kontrollmenschen, ist es die Unverfügbarkeit, die Aufstellungen bieten. Ich weiß nicht, was herauskommt. Auch das wird im Rahmen der »Professionalisierung der Methode« ja bereits eingezwängt in Fragebögen, Vor- und Nachbereitung von Seminaren. Alles soll sicher, kontrolliert und verfügbar gemacht werden. Der Wegbereiter der Psychosomatik, Georg Groddeck, von dem Sigmund Freud passenderweise den Begriff des unberechenbar-triebhafen Es übernahm, wurde einmal als »wilder Analytiker« bezeichnet. So etwas gefällt mir auch für die Aufstellungsarbeit. Setzt man das heutige Antlitz der Aufstellungsarbeit mit dem innovativen, unbestechlichen Mut ihres Begründers Bert Hellinger ins Verhältnis, so habe ich im Angesicht der aktuellen Sicherheitsbedürfnisse und Kontrollbestrebungen eher die Sorge, dass sie sich (I beg for pardon) zu einem hospitalisierten Schoßhündchen entwickelt. Ich mag das wilde, ungezogene Biest lieber, dass Hellinger praktisch und geistig entbunden hat. Durch die Beschäfigung mit immer neuen Regularien anstelle eines Muts zum Eigenen und Unkorrekten, der auch zum Bruch mit dem Zeitgeist der »Professionalisierung« bereit ist, wird die Arbeit äußerlich und innerlich vor allem eines: langweilig und ungefährlich.

Mit einer für alle Anbieterinnen verbindlichen Abschlussprüfung drohen den Praktikern der Aufstellungsarbeit ähnliche Zustände, wie wir sie in den aktuellen neoautoritären Entwicklungen in liberalen Demokratien nicht erst seit der Coronakrise sehen können: Freiheit, liberales Denken, leben und leben lassen stehen nicht mehr hoch im Kurs – im Sinne höherer Ziele sind sie auf unbestimmte Zeit suspendiert oder gelten als historisch überholt. Die neuen Ethikrichtlinien zur Aufstellungsarbeit mussten wir nicht nur alle feierlich unterschreiben, sondern es wird auch bestimmt, dass wir sie in unserer Ausbildung verkünden. Was ist, wenn man sie für überflüssige, pathetische Worthülsen hält, die in ihrer Spezifität kaum über die allgemeine Menschenrechtserklärung hinausgehen? Dann muss man es trotzdem machen, möchte man nicht in irgendeinem Schiedsverfahren der Vereinsmitgliedschaft enthoben werden. Werde ich nun vielleicht selbst »gecancelt« und ausgeschlossen, wenn ich bekenne, dass ich sie für unsinnig und überflüssig halte und mich über derlei Dirigismus ärgere?

Eine für alle verbindliche »schrifliche, mündliche und praktische Prüfung« würde der gegenwärtigen Entwicklung des Eingriffs in die Lehrfreiheit der Ausbilder die Krone aufsetzen. Wie wäre es stattdessen mit dieser anderen Variante? Jeder Anbieter, der seine Teilnehmerinnen gern prüfen möchte, macht das nach seinem Gusto. Wer eine Ausbildung mit »Prüfung« absolvieren möchte, findet genau dies bei den Anbieterinnen, zu denen dies persönlich und in Bezug auf ihre Weiterbildung passt. Wer hingegen einen anderen Weg in seiner Ausbildung geht, macht es auf seine Weise. Man greif ihm nicht ins Handwerk in der bürokratischen Überheblichkeit, dass man besser wisse, was für seine Weiterbildungsteilnehmer richtig ist. Was dann allerdings fehlt? Der prüffreudige Anbieter wird vielleicht monieren, dass seiner Prüfung das offizielle Siegel fehle. Wenn es keine offiziellen Vorgaben gibt, wenn nicht jeder Anbieter nun eine Prüfung abnehmen muss, dann ist er vielleicht im Nachteil. Sein Unvertrauen in die Freiheit sollen die anderen mit ihrer Freiheit bezahlen. Denn, vielleicht interessieren sich die Ausbildungsteilnehmer ja nicht primär für Prüfungen, Qualifizierung und ähnliches, sondern für den Geist und die Seele, die dieser Arbeit innewohnt.

Prüfungen passen zu manchem Anbieter, zu anderen nicht. Jede Anbieterin, jeder Anbieter hat Eigenheiten. Wer bei uns z. B. das gesamte Weiterbildungsprogramm durchläuf, braucht hierfür 5 Jahre und über 70 Gesamttage. Für uns passt das, aber soll ich deswegen erwarten, dass die anderen das übernehmen müssen, weil fünf Jahre Weiterbildung mehr Qualifizierung bieten als die vorgeschriebenen zwei? Wir machen in unserer »Oberstufe« sehr gute Erfahrung mit einer Kolloquien-ähnlichen Lernsituation, in der die Teilnehmerinnen eigene Beiträge vorstellen. Für uns passt das, aber soll ich mir anmaßen, irgendjemand anderem das als curriculare Vorgabe zu machen?

Die Einrichtung von Prüfungen würde eine Pfadabhängigkeit nach sich ziehen, die sicherlich die wenigsten von uns wollen. Wo Prüfungen sind, sind Noten nicht weit, Scheine, Module und Sitzenbleiben. Und wer bestimmt über die Inhalte? Brauchen wir dann ein Zentralabitur oder bekommen wir föderale Probleme in der Weiterbildungslandschaft? Wie besetzen wir den Wächterrat über die Weiterbildung, dem dann alle Macht zukommt? Oder die gegenteilige, eher zu erwartende Farce: Alle machen eine Prüfung, alle kommen immer durch. Wollen wir sowas?

Auf welchen Erfahrungen mit Prüfungen beruht deine Meinung? Was ist für dich eine „Prüfung“?

Ich habe Abitur gemacht, studiert und die üblichen Prüfungen absolviert. Manche waren okay, nicht wenige idiotisch (z. B. dadurch bedingt, dass man möglichst viel auswendig Gelerntes abspulen musste), manche tatsächlich notwendig (die Führerscheinprüfung), andere für mein weiteres Leben vollkommen überflüssig (Matheprüfung im Abitur). Mein Resümee: Ich brauche keine weitere und es müsste sich um etwas sehr Reizvolles handeln, um mich noch mal für etwas zu überwinden, was mit einer Prüfung abschließt.

Auch für die Aufstellungsarbeit musste ich eine Prüfung absolvieren. Jene hatte aber keinerlei formalen Hintergrund, sondern wurde ganz einfach als Lebensherausforderung an mich gerichtet. Ich berichte kurz hierzu:
Im Jahr 2008 begann ich im Alter von 25 Jahren meine Ausbildung in Aufstellungsarbeit. Über einen glücklichen Zufall ergab es sich, dass ich kurz nach dem Start meiner Weiterbildung mit meinem damaligen Kollegen Martin Woelffer ein gemeinsames Institut für Aufstellungsarbeit gründete. Ich sah mich dabei aufgrund meines Alters fürs erste eher als ein jemand, der Texte schreibt und eine Webseite aufbaut. Im ersten Seminar, das unter unserem neuen Namen stattfand, fragte mich eine Frau, die sich ein paar Tage vorher bei mir telefonisch angemeldet hatte, ob ich ihre Aufstellung leiten könnte. Martin hatte als offizieller Seminarleiter seinerseits nichts dagegen und so leitete ich meine erste Aufstellung. Sie kostete 180,- Euro, was für mich damals mehr war, als ich in einer Woche zum Leben zur Verfügung hatte. Noch drei andere Leute aus dem Kurs wollten dann mit mir aufstellen. Danach entschieden wir, dass wir unsere Kurse zusammen anbieten wollten. Nach dem nächsten Seminar kamen drei Interessentinnen auf uns zu und fragten uns, ob wir in der Methode auch ausbilden würden. Ich selbst war zu dem Zeitpunkt selbst noch am Anfang meiner Ausbildung. Wir sagten ja und ich begann Bücher zu lesen, ein Ausbildungskonzept zu erarbeiten, es zu bewerben, Übungen zu überlegen, Papiere zu schreiben. Am Ende des Jahres hatten wir neun oder zehn Teilnehmerinnen in unserer Ausbildung. Wir hatten keine Erlaubnis vom Aufstellerverband, waren keine Lehrtherapeuten, ich hatte auch nicht um Erlaubnis unserer Ausbilder gefragt. Es war – mit ein wenig romantischem Pathos – eine Prüfung durch das Leben. Hätte ich auf meine Abschlussprüfung gewartet mit der Sicherheitsmentalität, die die institutionalisierte Aufstellergemeinschaft heute durchwaltet, dann wäre ich heute wahrscheinlich alles Mögliche, aber kein Aufsteller.

Was würde geprüft? Was wäre für dich eine aus­reichende Qualifizierung auch ohne Prüfung im Bezug auf die Aufstellungsleitung und die Aufstellung selbst?

Ich bleibe offen und bekenne: Ich interessiere mich nicht für »Qualifizierung« und noch weniger für eine geprüfte Qualifizierung. Stattdessen mache ich in Bezug auf die Absolventinnen unserer Ausbildungen eine andere Erfahrung: Eine Ausbildung in Aufstellungsarbeit ist in erster Linie eine Schule des Lebens, für bereits ausgebildete Therapeuten, Beraterinnen, Coaches, Lehrerinnen und andere zudem eine Schulung des therapeutischen Bewusstseins. Ich spreche noch ein wenig offener aus, was auch fast alle Kollegen, mit denen ich spreche, so erleben und mit mir teilen: Unsere »Ausbildungen« sind in erster Linie eine gute Therapie. Wir haben auf dem freien Markt gar keinen Platz für abertausende professionelle Aufstellerinnen, die jährlich dazukommen und hiervon leben möchten. Wenn von 25 Teilnehmern zwei Vollzeitprofis herauskommen, zehn Menschen, die die Arbeit an den entsprechenden Anschlussstellen manchmal in ihre Arbeit einbauen und die restlichen 13 zwei wichtige, lehrreiche und gute Jahre hatten, die sie nicht missen wollen, bin ich zutiefst dankbar für den »Dienst« (B. Hellinger), den man mit der Ausbildung in Aufstellungsarbeit verrichten durfte.

Inwiefern gewönne eine Weiterbildung insgesamt durch eine Abschlussprüfung? Oder: Weshalb verzichtest du auf eine Prüfung in einer Weiterbildung zur Aufstellungsleitung?

Ich selbst habe in meiner Ausbildung in Aufstellungsarbeit eine Abschlussarbeit geschrieben. Es ging darin um den »Wirklichkeitsbegriff der Aufstellungsarbeit«, ein Thema, dem ich bis heute treu geblieben bin. Auch in der ersten Weiterbildung, die ich mit meinem damaligen Kollegen Martin Woelffer angeboten habe, haben wir eine schriftliche Abschlussarbeit angesetzt und auch eine Art praktischer Prüfung: Jede Teilnehmerin musste einen eigenen Klienten mitbringen und vor der Gruppe eine Aufstellung leiten. Manche machten es sehr gut, andere eher so lala. Es war ein nettes Ritual, was aber auch uns als Novizen in der Weiterbildung half, dem ganzen einen entsprechend professionellen Eindruck zu geben. Aber zu einem hat es mit Sicherheit nichts beigetragen: dass wir hiermit die »Qualität« gesichert und die Menschheit vor unqualifizierten Aufstellern bewahrt hätten. Je länger ich diese Arbeit mache, desto mehr und freudiger vertraue ich mich dem Leben an und vertraue seinen Prozessen. Daher brauchen wir keine Prüfungen für unsere Weiterbildung. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die meisten Leute zu uns kommen, weil wir bei uns einen Kontrapunkt zur allseitigen »Effizienz-, Prüfungs- und Qualitätswelt« draußen setzen.

Wann kannst du Teilnehmende nach einer Weiterbildung, die anschließend mit Klientinnen arbeiten möchten, gut gehen lassen?

Wenn die Ausbildung vorbei ist, darf jeder gehen. Ich bin kein Vater, der mahnenden Blickes an all das Schreckliche denkt, was die könnten. Im Gegenteil: Ich vertraue darauf, dass sie in unserer Weiterbildung ein Gefühl für sich selbst entwickelt haben, dass sie auf einer tieferen Ebene etwas über ihre Talente, aber auch über ihre Grenzen erfahren haben. Sie dürfen und sollen dann raus in die Welt mit dem Gelernten und ihre Erfahrungen damit machen. Mein ehrwürdigstes Ziel liegt einfach nur darin, für sie überflüssig zu werden und das schließt auf meiner Seite ein, dass ich bereit bin, die Menschen voll und ganz ihre Wege gehen zu lassen.

Die Alternative hierzu: Möchte ich mich vor einen Menschen stellen, der die Aufstellungsarbeit lernt, und ihm nicht einen Rat oder eine ehrliche Einschätzung geben, sondern mir anmaßen, ihm einen Abschluss, einen Titel, eine Zulassung vorzuenthalten? Wer bin ich, dies zu tun. Die Menschen, die zu uns kommen, sind freie Wesen. Und frei sind sie auch in der Einschätzung, ob sie in der Lage sind, mit dieser Methode  mit Menschen zu arbeiten oder nicht. Den Rest regelt die unsichtbare Hand des Marktes. Sie ist die große Regulatorin und so viel ehrlicher und gnadenloser wie die Abschlussprüfung, die die Weiterbildnerin abnimmt. Im Klartext: Wer es nicht kann, wem die persönliche Eignung, die »Rampensaugene« zur Gruppenleitung, die Fähigkeit zur freischwebenden Resonanz fehlt, vor dessen Praxis brauchen wir wenig Sorgen zu haben, denn sie wird sich nicht entwickeln. Kaum etwas ist heute schwerer, als eine Aufstellungspraxis neu am Markt zu etablieren. Nur wer etwas Wahrhaftiges zu teilen und zu bieten hat, hat eine kleine Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. Die über allem stehende Angst der Weiterbildner, dass Aufstellungsneulinge Menschen durch ihre Unfähigkeit traumatisieren, ist illusionär: Denn sie bekommen gar keine Gruppen voll, in denen sie ihr Schreckenswerk vollziehen könnten. Auch die Angst, dass dies auf die unbedingt professionell wirken wollende organisierte Aufstellerinnengemeinschaft abfärbt, halte ich für neurotisch. Wer etwas vollkommen anderes als das köcheln möchte, was als unser Minimalkonsens an Standards gilt, macht das. Er braucht dafür auch keine zertifizierte Weiterbildung. »Aufstellungsarbeit« ist kein geschützter Begriff, genauso wie sich jeder »Therapeut«, »Beraterin« oder »Coach« nennen darf. Wir werden die Welt nicht vor dem Unheil bewahren, das auch im Namen unserer Arbeit verbreitet wird. Auch viele renommierte Kollegen machen in ihrer Arbeit Dinge, die ich für gruselig halte, und vielen wird es mit meiner Arbeit genauso gehen. Das ist der Preis der Freiheit. That’s life.

Aufstellen lernen, bedeutet Fehler zu machen. Der puritanische Glaube daran, dies mit Qualitätsmaßnahmen, Ethikrichtlinien und Prüfungen in den Griff zu bekommen, nimmt diesem Lernen die wichtigste Grundvoraussetzung: die Bereitschaft, sich von der Aufstellung, den Menschen, der Gruppe, den Phänomenen eines Besseren belehren zu lassen. Ich zitiere noch mal Bert Hellinger, dessen geistiges Erbe ich für die Bestimmung unserer Identität und Haltung als Aufstellerinnen offensiv verteidigen möchte. Über Anfänger sagte Hellinger einmal: »Jede Kuh hat mal als Kälbchen begonnen.« Wir entlassen die Menschen als »Kälbchen« aus unseren Weiterbildungen, genauso wie wir alle einmal Kälbchen waren. Im Übrigen: Ich kenne Kälbchen aus unserem Stall, die ohne Abschlussprüfung mit Aufstellungsarbeit sechsstellige Summen jährlich erwirtschaften. Warum? Weil sie den Mut hatten, sich auf das Ungewisse einzulassen, das der Aufstellungsarbeit innewohnt. Weil sie bereit zum Risiko waren. Weil ihre Liebe für diese Arbeit größer wie die Bedenken war, die mit der Institution einer Prüfung energetisiert werden.

Wie stehen die Teilnehmenden der Weiterbildung zu der von dir/euch gewählten Qualifizierung? (Fragen sie nach Prüfungen, vermissen oder erwarten sie welche, begrüßen sie diese Art Abschluss, ändern sie im Verlauf der Weiterbildung ihre Meinung, wird das überhaupt thematisiert …?)

Nein, das wird meist nicht thematisiert. Manchmal wird so etwas gefragt und man lacht dann, wenn wir antworten. Wir haben für das Ende jeder Ausbildung eine Art Abschluss mit jeder einzelnen Teilnehmerin. Es ist vielleicht eine »Prüfung« in dem Sinne, wie wir arbeiten. Am Ende der Weiterbildung nehmen wir uns zwei Tage Zeit. Jeder Teilnehmer, der sein Zertifikat erhält, kommt hierfür zu uns nach vorne. Dann schauen wir ihm in die Augen, nehmen uns Zeit und sagen freundlich, aber auch gnadenlos ehrlich, wie wir ihn in den letzten zwei Jahren erlebt haben. Die Teilnehmerinnen richten auch das Wort an uns beide (mich und meinen Vater Wilfried Nelles). Auch die Frage, ob wir jemanden für ein Aufstellertalent halten oder nicht, sprechen wir offen an, auch auf die Gefahr hin, dass man uns böse ist. Für uns und zu uns passt das und die Leute schätzen dieses Ritual sehr. Zu anderen passt etwas anderes. Der Regisseur Jim Jarmusch sagte einmal einen guten Satz, dessen Geist ich mir als Haltung für die Unterschiede in unseren Weiterbildungen wünsche: »Mach dein Ding und lass die anderen in Ruhe. Das ist cool.«

* Anmerkung der Herausgeberinnen: Das hier geführte Statement bezieht sich auf die Frage nach der Verbindlichkeit einer Abschlussprüfung für alle Weiterbildungen. Malte Nelles erhielt von uns dieselben Fragen wie Thomas Hafer und hatte beim Schreiben keine Kenntnis von dessen Argumenten. Die Darstellung der Positionen erfolgt alphabetisch. Um die Spannbreite der Argumentation kennenzulernen, ist es empfehlenswert, auch den vorangehenden Beitrag von Thomas Hafer zu lesen.

Erschienen in:  Kerstin Kuschik, Kirsten Nazarkiewicz (Hg.): Aufstellungen lernen und lehren, Praxis der Systemaufstellung, Vandenhoeck & Ruprecht, 2022

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