Führung in Zeiten von Corona: Bloß keine Schwäche zeigen (1)
Ich habe keine Zweifel an der Integrität und Intelligenz von Mark Rutte oder Angela Merkel. Ich frage mich jedoch, wo er, wo Sie und auch, wo wir gelandet sind.
Corona ist ein Spiegel – ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind und wo wir sind. Wer unsere Anführer sind, und wer wir als die ihnen Folgenden sind, im Hier und Jetzt.
Es gibt bemerkenswerte Parallelen zu Pandemien der Vergangenheit, die wir nicht kennen, weil eine Pandemie dieser Größenordnung zuletzt vor sehr langer Zeit stattgefunden hat. Ich möchte zuerst darauf eingehen. Und dann können wir sehen, ob der Unterschied so groß ist, wie wir denken.
Die Corona-Krise und die Pest: Parallelen
Pandemien bringen den Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Dennoch will er keine Schwäche zeigen. Und so verstärkt er seine Kräfte. Das ist der Kern eines kürzlich erschienenen Artikels des Freiburger Geschichtsprofessors Volker Reinhardt. Er skizziert die Parallele zwischen Pest und Corona in farbenfrohen Bildern. Er behauptet, dass tatsächlich Parallelen gezogen werden können, obwohl der Vergleich aus etlichen Gründen auch fehlerhaft sei. Besonders zutreffend sei er aber, wenn es um das Verhalten von Behörden gehe.
Die “Experten” der Pestzeit um 1347 – Theologen, Astrologen und Ärzte – kamen einstimmig zu der Diagnose, dass die Pest das Ergebnis einer ungünstigen Planetenkonstellation war die giftigen Dämpfe zur Erde schickte. Die Menschen starben demzufolge an der tödlichen Inhalation. Den Bürgern wurde von den Experten geraten, an duftenden Essenzen zu schnuppern, eine strenge, fleischfreie Diät einzuhalten und vor allem: positive Gedanken zu hegen.
Trotz all dieser famosen Ratschläge waren die Könige und Päpste de facto aber hilflos in einer Epidemie, die das Leben aller akut bedrohte. Ihre Position und noch viel schlimmer, ihre Legitimität waren davon bedroht. „Herrschaft“, so Reinhardt, „rechtfertigt sich zu allen Zeiten, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Quellen, durch den daraus entspringenden Vorteil für die Beherrschten, auch wenn sie sich jahrhundertelang im Eigeninteresse schmaler Oligarchien entwickelt hat.“
Ohne nachweislich positive Auswirkungen auf das öffentliche Interesse, verlor der Staat demnach also sein Existenzrecht und wurde äußerst verletzlich, damit umstritten und letztendlich ersetzbar.
Dies wurde lange vor der Pest während großer Hungersnöte deutlich. Als es den Behörden nicht gelang einen Getreidemangel zu beheben, der zu Preiserhöhungen und Brotknappheit führte, betrachteten die Massen den Pakt als verletzt und aufgelöst. Sie nahmen die Sache im Namen des natürlichen Überlebensrechts selbst in die Hand. Und sie plünderten Getreidespeicher und Bäckereien.
Gestehe keine Schwäche ein
Dies führte zu einem eisernen Prinzip, an das sich alle Behörden bis heute strikt zu halten haben: Unter keinen Umständen die eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit eingestehen! Im Gegenteil: In Krisenzeiten nahm die Produktion von Verordnungen, Dekreten, Anweisungen und Strafen enorm zu. Die Maschinerie der Legislative wurde produktiver, je mehr die Infektions- und Sterblichkeitsraten stiegen. Mit anderen Worten: Entschlossenheit um jeden Preis war und ist das Motto. Zeigen sie keine Schwäche! Zeigen sie, dass sie tatkräftig sind! Betonen sie ihre große Umsicht und präsentieren sie Zahlen, die ihren Erfolg belegen!
Man erkennt auffallende Ähnlichkeiten mit der aktuellen Corona-Krise, nicht wahr?
Niemand wird leugnen, dass bestimmte grundlegende Sicherheitsmaßnahmen wie Handhygiene, Abstandhalten und das Tragen von Masken, die im Frühjahr 2020 eingeführt wurden, sinnvoll und angemessen sind. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass der Staat, wie in 1347, an seine Grenzen stößt. Er kann die Regeln für den öffentlichen Raum weiter verschärfen – wie es die venezianischen Aristokraten auf dem Höhepunkt der Pest-Epidemie getan haben – und die Einhaltung immer effizienter überwachen lassen. Dabei wird deutlich, dass dieses Muster wütende Gegenreaktionen hervorruft: Was außerhalb der eigenen vier Wände verboten ist, wird im privaten Bereich umso hemmungsloser ausgelebt. Niemand kann wollen, dass ein Polizeistaat durchs Schlüsselloch späht, geschweige denn ein totalitärer Staat.
Es stellt sich also die Frage, ob der Staat, der letztendlich nur durch demokratischen Konsens existieren kann, heute nicht endlich zugeben könnte, was für vormoderne Oligarchien unvorstellbar war: dass er seine Ressourcen erschöpft hat, vielleicht sogar zu weit gegangen ist, und dass es jetzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft und die Vernunft des Individuums ankommt. Vielleicht würde das ehrliche Eingeständnis der Regierungschefs und der verschiedenen Experten, dass sie ihr Bestes gegeben haben, aber sich nicht wirklich sicher sind, die Akzeptanz der wesentlichen Sicherheitsregeln fördern.
Die Pandemie ist ein Spiegel, der den Zustand des Landes in Krisenzeiten zeigt. Zum Glück ist es eine Ausnahmesituation.
Oder nicht?
Das Anmaßung / Ohnmacht-Paradoxon (2)
Es ist nicht zu leugnen, dass wir in letzter Zeit immer wieder über dieses Spiegelbild gestolpert sind. Das Flüchtlingsproblem, das Klimaproblem, die Infrastruktur der Eisenbahnen, der neue Flughafen in Berlin-Schönefeld u.v.m. Es gibt immer mehr gesellschaftliche Aufgaben, auf die der Staat keine oder nur noch unzureichende Antworten hat.
Es macht keinen Sinn, die Unzulänglichkeit des Staates isoliert zu betrachten oder nach Schuldigen zu suchen. Wir müssen auf den Zusammenhang schauen, auf das Muster. Als Regierungsaufgabe mag die Corona-Krise durch ihre einzigartigen Herausforderungen extrem schwierig sein. Dennoch zeigt sie uns die Symptome einer Krankheit, die uns seit Jahren quält. Wir müssen über das Paradoxon der Anmaßung/Ohnmacht sprechen.
Das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon beschreibt den Widerspruch, der entsteht, wenn der politische Primat im Hinblick auf die Regulation unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens die eigene Potenz nur noch vortäuscht, während er strukturell mit der Realität seiner Impotenz gegenüber Corona und ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird, und wir diese Ohnmacht zwar beiläufig signalisieren, aber im Grunde leugnen.
Strukturelle Ohnmacht wird durch Notverordnungen, Neuwahlen, einer weiteren Subvention oder einem zusätzlichen Gesetz rationalisiert. Oder wir ernennen einen neuen Minister. Dann wird alles gut.
All diese Phänomene zeigen uns, wie wenig Kontrolle wir haben, dass wir den Gesamtüberblick verloren haben, im Überlebensmodus sind und nur „auf Sicht“, sprich Inzidenzen fahren.
Die stereotype Antwort besteht darin, eine Untersuchungskommission aus erfahrenen Politikern, Entscheidungsträgern und hochdekorierten Wissenschaftlern erst eine Diagnose stellen zu lassen und dann einen Aktionsplan.
Genau das ist das Problem.
Wir müssen langsam anerkennen, dass die Realität dem politischen Primat entglitten ist.
Und wir müssen erkennen, dass wir alle in diesem paradoxen Paradigma gefangen sind – Politiker und ihre Entscheidungsträger, Beamte und Bürger. Es gibt keine Schuldigen, Zeigefinger machen keinen Sinn. Es gibt aber Verantwortlichkeiten.
Was sind die Symptome des Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxons?
Die Durchführung von Maßnahmen ist politisiert. Der Staat kann die Umsetzung seiner Maßnahmen nicht mehr so steuern, wie er will, weil die Sprunghaftigkeit der politischen Dynamik nicht mit der Komplexität großer Verwaltungsapparate vereinbar ist. Verstärken wir also unsere Umsetzungsbemühungen? Nein, stattdessen besetzen wir die Führungsebene des öffentlichen Dienstes politischer, als ob wir alle die Realität durch eine politisch-administrative Brille betrachteten, die sich automatisch anpasst. Das ist, gelinde gesagt, sehr einseitig und wenig praxisnah.
Der Dialog ist polarisiert. Wenn wir ein dysfunktionales System analysieren, gelangen wir über Reflexion und Neuorientierung schließlich zur Transformation. In einem polaren System (Koalition/Opposition), das sich durch politisches Primat zur höchsten Ordnung erklärt hat, kann ein Versagen im Prinzip nur durch das eine oder andere verursacht werden. Dieses System kann keine Realität wahrnehmen, die über diesen Primat hinaus reicht. Dann gibt nur noch einen Weg: Sichtweisen werden verschärft. Die Mitte verschwindet und die Zentrifugalkräfte nehmen zu, bis wir aus der Kurve fliegen.
Political Correctness als Norm. Da der politische Anspruch weiterhin besteht, die administrative Wirksamkeit jedoch abnimmt, verlagert sich das Ziel der Machbarkeit von konkreten administrativen Maßnahmen zu einer angemessenen politischen Sprache und einem angemessenen politischen Verhalten. Wir moralisieren. Nichts gegen Moral, es sei denn, sie wird als Verteidigungsmechanismus verwendet.
Die Sprache erodiert: Minister verwenden zunehmend absolute Begriffe wie „unmöglich“, „unannehmbar“, „unzulässig“ und „inakzeptabel“. Das geht vielleicht einmal. Aber ein Minister ist kein neutraler Beobachter, sondern eine Autorität, der Boss. Die permanente Nutzung dieser Wörter macht Minister unglaubwürdig.
Fokus auf Details: Staatsverwaltung unterscheidet sich vom Management. Staatsverwaltung erfordert Reflexion, Distanz, Überblick und Vision. Tageswerte sind tödlich. Trotzdem „managen“ Politiker, Minister und Spitzenbeamte zunehmend Medienereignisse (beachten Sie auch hier die Semantik) mit einer Lebensdauer von wenigen Stunden bis zu einigen Tagen. Die Aufmerksamkeit für den akuten Vorfall ist größer als die für die Statistik, den langfristigen Trend, weil die Medien unsere primären Instinkte stärker triggern als unsere Sinne für Verhältnismäßigkeit, Distanz und Nuance.
Die Angst vor Risiken wächst: Das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon signalisiert eine Sackgasse. Wirtschaftlich, sozial, politisch, moralisch. Anstatt zu kreieren, zu wachsen (nachhaltig), uns zu entwickeln und anzupassen, werden wir defensiv und rückwärtsgerichtet. Wir haben Angst zu verlieren, was wir haben. Die Idee der Machbarkeit verschiebt sich von der Schöpfung zur Vermeidung von Risiken, von der Gefahr.
Wie sind wir hierhergekommen?
Die Moderne und Individualisierung: Zersplitterung von Materie und Geist (3)
Komplexität und Kontrollverlust
Regierungsorganisationen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr kompliziert geworden. Das ist auf die ständig wachsende gesellschaftliche Komplexität, die unaufhaltsame Digitalisierung, regelmäßige Haushaltskürzungen und sich ändernde politische Prioritäten zurückzuführen. Darüber hinaus können Regierungsorganisationen ihren Verantwortungsbereich nicht auf die von ihnen kontrollierten Bereiche beschränken, wie das in der Geschäftswelt möglich ist. Zum Beispiel kann die Regierung die Jugendbetreuung nicht aussetzen, wenn sie denkt, dass sie zu teuer wird.
Während sich frühere Staatsorgane in gewissem Maße von einem Planungs- und Kontrollansatz leiten ließen, haben sich viele große Regierungsorganisationen heute zu sogenannten complex adaptive systemsentwickelt, für die die Chaostheorie gilt. Diese Systemtypen zeigen ein nicht lineares und daher unvorhersehbares Verhalten. Zum Teil können sie nicht mehr durch reguläre Kontrollmechanismen mit gewohnter Kausalität kontrolliert werden.
Die meisten von uns kennen das Wort Komplexität, aber nur wenige verstehen das Konzept dahinter und seine weitreichenden Konsequenzen für die Regierungsführung unseres Landes. Wie ist diese Komplexität entstanden?
Materie
Wir haben die Welt determiniert und in unzählige kleine Teile zerlegt, um sie zu verstehen. Mit diesem Verständnis und Wissen haben wir Dinge gemacht, gute Dinge, aber die Natur des Universums nicht ganz verstanden. Die Aufklärung, wie wir diese neuen Einsichten nannten, war notwendig und nützlich und brachte uns die Moderne. Aber jetzt droht diese Fragmentierung ohne systemische Perspektive zum Gegenteil zu werden. Wir haben ein modernes Chaos geschaffen, das wir nicht mehr kontrollieren können. Nicht mit den Mechanismen aus der Ära des Gruppenbewusstseins, der Götter, Könige und Premierminister, der Koalitionen und Oppositionen. Und nicht einmal mit den Methoden der Moderne, des Neoliberalismus und der Wissenschaft. In dieser Komplexität verlieren wir ungewollt die Kontrolle, nicht weil wir dumm sind, sondern weil wir unter keinen Umständen Schwäche oder Ohnmacht zeigen wollen. Dies bringt uns zu einer modernen Variante der mittelalterlichen Mystik: Symbolik, Visionen von Angst, politisch korrekte Sprache und Moralismus.
Geist
Was unseren Organisationen und unserer Gesellschaft passiert ist, ist uns selbst passiert. Wir haben die Fragmentierung von Wahrheiten und Meinungen als individuelle Freiheit bezeichnet. Natürlich war es eine Befreiung von den Ketten der Gruppe. Aber auch die Euphorie des Individuums droht sich in ihr Gegenteil zu drehen. Wenn alle Recht haben, wohin gehen wir? Wenn alle Recht haben, was ist dann die Wahrheit? Wenn alle Recht haben, gibt es noch irgendwelche Grenzen … Lügen? Wenn jeder Witz jemandem schadet, worüber können wir dann noch lachen? Unsere Hypothese war, dass wir uns befreien würden. Wir würden die Diktatur der Gruppe in die Freiheit des Einzelnen verwandeln. Die Realität ist jedoch oft trivialer: Wir bewegen uns von der Diktatur der Gruppe in die Diktatur des Einzelnen.
Wir nehmen die fragmentierte Materie als Chaos wahr. Das Chaos ist aber beherrschbar. Nicht mit unseren hierarchischen politischen Systemen des 19. Jahrhunderts und nicht mit mechanistischen, modernistischen Methoden. Es ist kontrollierbar, weil es eine Form der Ordnung ist, obwohl wir sie nicht vollständig ergründen können. Wenn aber auch der Geist in einzelne Fraktionen fragmentiert ist, entsteht ein paradigmatisches Problem: Chaos trifft Chaos.
Sozialen Medien
Gleichzeitig bauen wir Soziale Medien auf, die Ausdruck dieser Fragmentierung sind. Zunächst vielversprechende Entwicklungen. Fest der Redefreiheit, Säule der Demokratie, Windhund der Nachrichtenjagd, das war’s! Aber mit ein paar unerwarteten Nebenwirkungen.
Die Wahrheit erodiert. Die politische Rechte oder Linke sind nicht die Verpester von Fake News. Fake News sind ein Symptom der modernen Mediengesellschaft mit ihrer eigenen ungeahnten Dynamik. Diese Dynamik, die Autonomie der erodierenden Wahrheit, ist stärker als wir denken. Und ein Phänomen hat keine Moral.
Darüber hinaus triggern diese Medien unsere Instinkte mehr als unsere Reflexion und unsere Rationalität. Das ist ihr Geschäftsmodell. Infolgedessen sind wir gemeinsam auf eine frühere Entwicklungsstufe der Kommunikation zurückgefallen, sind vom Rationalen zum Vorrationalen, Instinktiven regrediert mit dem Ergebnis: Als Akt der Verzweiflung richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf individuelle und zufällige Dramen, die mit einer universellen Gültigkeit versehen werden. Auch hier wiederholen wir eine mittelalterliche Dynamik: Jeden Tag wird auf dem Marktplatz ein anderes Medienopfer von Twitter oder Facebook gevierteilt.
Machbarkeit und Bewusstsein
Unsere Perspektive auf Komplexität wird durch die Art des Bewusstseins bestimmt, aus dem wir es betrachten, und das hat Bedeutung für unsere Beurteilung der Komplexität. Bewusstsein kann definiert werden als die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst betrachten, sehen und wahrnehmen und sie daher so erleben. Und was wir wahrnehmen und erleben, betrachten wir als Realität.
Im Mittelalter kam alles Unverständliche und außer Kontrolle Geratene von Gott. Komplexität wurde also mit dem Göttlichen gleichgesetzt, und Chaos war eine von Gott gegebene Tatsache.
Unsere gegenwärtigen verfassungsmäßigen Strukturen und Prinzipien stammen aus früheren Jahrhunderten, als das Gruppenbewusstsein noch weit verbreitet war. Identität und gesellschaftliche Position wurden von der Gruppe abgeleitet, zu der man gehörte. In dieser Zeit war Komplexität immer noch ein lösbares Problem, das man den Ingenieuren überlassen konnte. Es war sicher großartig, die erste Eisenbahnlinie von Haarlem nach Amsterdam zu bauen und festlich zu eröffnen. Aber schon mit einer Sozialgesetzgebung wie der WOA (Berufsunfähigkeitsrente) kamen wir in einem Grenzgebiet an. Politisch und sozial war dieser Schritt logisch und sinnvoll. Aus Sicht der Komplexitätstheorie war er jedoch bereits ein riskanter Schritt, da unerwartete und unerwünschte Nebenwirkungen auftraten, wie z.B. der Missbrauch der Berufsunfähigkeitsrente, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden.
Als sich die Moderne in den 1960er Jahren ihre Bahn brach, wurde eine so enorme Menge an individueller Kreativität, Energie und Ambition freigesetzt, dass wir über mehrere Jahrzehnte hinweg große soziale Fortschritte erzielen konnten. Die Emanzipation blühte wie nie zuvor. Nicht umsonst wird diese Periode in Frankreich „les Trentes Glorieuses“ (1945-75) genannt. Doch dann geriet Korn für Korn Sand ins Getriebe. Die beste aller Welten, die westliche, war unvollkommen geworden.
Unsere Freiheit war damals noch frisch, die Ketten des vorhergehenden Gruppenbewusstseins noch spürbar. Deshalb haben wir angenommen, dass Freiheit Machbarkeit impliziert. Die Idee der Machbarkeit hatte den Ruf, ein überwiegend linkes Thema zu sein. Und tatsächlich führte das Gruppenbewusstsein durch Konservatismus und Modernität durch Progressivismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen heftigen Kampf zwischen dem alten und dem neuen Bewusstsein.
Ab den 1980er Jahren dominiert das Bewusstsein der Moderne, der Anspruch des Individuums, des Ego, in einem viel größeren Kreis. Was nun zu einer viel allgemeineren Illusion der Machbarkeit führt. In progressiven Kreisen ist es die Machbarkeit des Staates und in konservativen Kreisen die Machbarkeit des Marktes, des Neoliberalismus. Die Fragmentierung politischer Fraktionen nimmt zu, aber die Vielfalt politischer Dogmen wird zu einer einzigen These, der Machbarkeit, herabgesetzt.
Basierend auf diesem Bewusstsein sehen wir Komplexität als Missmanagement oder als ein Problem, das wir Wissenschaftlern überlassen müssen. Chaos, lehrt der Duden, ist „Verwirrung, Unordnung“.
Aus diesem Grund wird keine Koalition bestehender Parteien in der Lage sein, das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon zu durchbrechen. Der Politik fehlt die Gegenmacht im Gegensatz zur Idee der Machbarkeit. Und so passieren die Dramen, die wir oben beschreiben. Und die Folgen werden sein:
Mehr Staat, weil der Staat machtloser wird. Ohnmacht, die weiter eskaliert. Sie wird noch mehr als Anmaßung erscheinen. Wenn die Anmaßung für den Staat selbst unerträglich wird, wird er sie schließlich auf den Bürger projizieren. Wenn der das richtige Verhalten zeigt, wird alles in Ordnung sein.
Und jetzt?
Das Ende der Machbarkeitsillusion (4)
Wenn man die Corona-Krise betrachtet, macht es keinen Sinn, den nächsten Stein in den Polarisierungsteich zu werfen. Lassen Sie uns einen nüchternen Blick auf die Phänomenologie des staatlichen und politischen Handelns werfen. Der Staat hat getan, was in einer risikobehafteten Gesellschaft, die vom Machbarkeitswahn besessen ist, zu erwarten ist, schon allein deshalb, weil alle in Europa das Gleiche getan haben.
Ich denke, wir sehen auch, dass der Staat sein Blatt in der Corona-Krise überreizt hat. Er tut und tat dies durch Interventionen von hohem symbolischem politischem Wert. Der Kollateralschaden wird nicht ausreichend wahrgenommen, auch weil die Einsicht gar nicht vorhanden ist. Und dieser Schaden hat in der Corona-Krise ein viel zu großes Ausmaß erreicht. Die Proportionalität als Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit droht verloren zu gehen.
Und so entstand das Paradoxon von Anmaßung und Ohnmacht. Wir erinnern uns: Ein Verständnis, das entsteht, wenn der politische Primat im Hinblick auf die Regulation unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens die eigene Potenz nur noch vortäuscht, während er strukturell mit der Realität seiner Impotenz gegenüber Corona und ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird, und wir diese Ohnmacht zwar beiläufig signalisieren, aber im Grunde leugnen.
Die Psychologie ist seit Jahrzehnten eine etablierte Disziplin zur Analyse und Unterstützung von Menschen und Organisationen. Wir zögern jedoch immer noch, sie auf die parlamentarische Demokratie anzuwenden. Und doch wird in der psychologischen Theorie die Verleugnung dieser fundamentalen Ohnmacht einfach Denial, Abwehr genannt. Die kurzsichtigen und unangemessenen Versuche, das Paradoxon mit noch mehr Steuerung, mehr Regierung und noch mehr Regeln zu vertuschen, nennen wir in der Psychologie Rationalisierung. Sie ist auch einen Verteidigungsmechanismus.
Diese heftigen Abwehrmechanismen sind verständlich. Wenn wir das Paradoxon der Anmaßung/Ohnmacht akzeptieren, ihm in die Augen schauen, sehen, was es ist, hinterfragen wir grundsätzlich das politische Mandat. Staat und Politik werden sich niemals grundlegend in Frage stellen. Aber wenn der Staat nicht mehr wirkmächtig ist, wodurch ist er dann überhaupt noch legitimiert???
Was ist die Lösung?
Im klassischen Sinne des Wortes gibt es keine Lösung. Die Frage zu stellen ist Ausdruck der Machbarkeitsidee: Problem, Analyse, Plan, Lösung. Mit der Analyse und dem Plan extrapolieren wir aber auch Gene des Problems in die Zukunft und schaffen dort die gleichen Probleme.
Wie sonst?
Propagieren wir keine naive Ideologie von Wohlstand, Glück und Gesundheit für alle, keine revolutionären Strategien der Umwandlung, keine populistischen oder extremistischen Theorien der rechten oder linken Signatur. Die Interessen von Millionen guten Menschen in den Niederlande und Deutschland und der nachfolgenden Generationen sind zu groß. Und es gibt zu viele Freibeuter an der Küste, die sich an der Verwirrung einer geschwächten westlichen Zivilisation erfreuen wollen.
Vielleicht gibt es eine Richtung, gibt es einen Weg, den wir gehen können, wenn wir uns allmählich bewusstwerden, dass wir es mit einem „wicked“ Problem zu tun haben. Und möglicherweise zeigt diese Sackgasse auch noch etwas anderes. Vielleicht steht diese Gesellschaft vor einer neuen Bewusstseinsphase.
Diese aufkommende neue Phase ist nicht the Great Reset. Das ist die Machbarkeitsillusion 3.0 auf der Stufe der Weltelite. Der westliche Mensch, der seit einige Jahrzehnten auf einer Bewusstseinswelle reitet und dachte, er sei das Meer. Es ist die Sprache der Größe, des Kapitals und des Anspruchs. Nehmen wir an, es ist gut gemeint, aber es ist die Sprache des Unverwundbaren.
Wie jeder, der sich daran erinnert, wie es war, von der Grundschule zur weiterführenden Schule zu gehen: Wir fangen ganz unten und von vorne an. Auf diese Weise beginnt auch eine neue Bewusstseinsphase. Das altgriechische „Chaos“ bedeutet Leere. Wir werden lernen müssen, in einer hektischen Welt, das Nicht-Wissen zu ertragen. Dies bedeutet nachdrücklich nicht „Un“tätigkeit. Es bedeutet, „nachhaltig“ zu handeln, bestimmt durch die Phänomenologie des Themas: pragmatisch, dosiert und realistisch. Ohne vorzutäuschen, die Welt retten zu wollen oder zu können, ohne Angst zu haben. Und betrachten wir alle Konsequenzen der Maßnahme und nicht nur die, die uns passen. Lasst uns so mal anfangen.
Coen Aalders, 21.04.2021
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 14.04.2021 hier veröffentlicht. Christina Graefe hat ihn ins Deutsche übersetzt.