Eine Buchbesprechung von Wilfried Nelles
Was ist Geschichte? Was ist wahr? Seit Donald Trump begonnen hat, von Fake News zu reden und selbst eine nach der anderen in die Welt posaunt hat, haben wir die neue Institution der „Faktenchecker“. Bei Google, Facebook, Youtube & Co übernehmen das schon die Algorithmen, also die Rechenprogramme der Computer. Sie geben vor zu wissen, was wahr ist und was nicht – und produzieren genau damit neue Fake News. Denn Fakten und die Wahrheit sind nicht dasselbe. Mit Fakten kann man wunderbar lügen und falsche Geschichten erzählen.
Ein Beispiel: Markus Söder hat Ende November gesagt, die Zahl der Corona-Toten sei so, als ob jeden Tag ein voll besetztes Passagierflugzeug über Deutschland abstürze. Das war faktisch richtig, denn es starben zu diesem Zeitpunkt täglich etwa 300 Menschen mit Corona (wobei ich das Thema, was „mit“ Corona für die Todesursache bedeutet, einmal beiseite lasse). Zugleich war es ein vollkommen irreführendes Bild und sollte dies auch sein. Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch das, was Söder nicht gesagt hat: dass nämlich in jedem Jahr im Herbst-Winter in Deutschland an jedem Tag rund 3000 Menschen sterben, also zehn Flugzeuge abstürzen, und zwar ganz ohne Corona. Ähnlich verhält es sich mit allen Fakten zu Corona: So richtig sie im einzelnen sein mögen, so willkürlich sind die Bilder, die damit erzeugt werden, und die „Nachrichten“, die daraus gemacht werden. Fakten und Wahrheit sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Damit komme ich wieder zum Thema Geschichte. Die meisten Menschen meinen, sie wüssten, was in der Geschichte passiert ist, und dass das stimmt, was man in der Schule gelernt oder in Büchern gelesen hat. Das ist ein Irrglaube. Wenn es gute Bücher sind, dann stimmen die Fakten, aber das heißt nicht, dass die Geschichte so war. Um es pointiert zu sagen: „Die Geschichte“ besteht aus nichts anderem als aus den Geschichten, die uns über das, was war, erzählt werden.
Nun wird es spannend. Was wissen wir über das Dritte Reich, über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus? Ich behaupte: sehr viel und nichts. Beides zugleich. Es wurden unendlich viele Fakten gesammelt, aber die Wahrheit weiß man dennoch nicht. Ich bleibe mal bei mir. Ich habe Politikwissenschaft studiert und sogar einige Jahre an der Universität gelehrt. Das Dritte Reich war nicht mein Spezialgebiet, aber ich habe sicherlich viel mehr darüber gelesen und kenne viel mehr Fakten als 95 Prozent der deutschen Bevölkerung. Dennoch kenne ich nicht die wahre Geschichte des Dritten Reiches. Niemand kennt sie. Streng betrachtet kenne ich noch nicht einmal die Fakten, denn nichts davon habe ich mit eigenen Augen gesehen. Auch das, was ich an Fakten zu wissen glaube, ist etwas, was ich glaube, weil ich die Berichte, die ich darüber gelesen habe, und das, was ich von Menschen, die die Zeit erlebt haben und denen ich vertraue, gehört habe, für glaubwürdig halte; weil diese Berichte Aussagen enthalten, die man nachprüfen kann, wenn man das will und die Zeit und die Kenntnis dafür hat. Da niemand diese Zeit und die Kenntnis hat außer einigen wenigen Fachgelehrten, glaubt man sie einfach. Vor allem glaubt man sie, wenn sie von anerkannten Historikern mehr oder weniger übereinstimmend so erzählt werden. Was ein anerkannter Historiker ist, ist wiederum Konvention und beruht auf Regeln, denen man wiederum vertraut. Wo die Historiker nicht übereinstimmen, was oft der Fall ist, hält man sich einfach an das, was man plausibel findet oder glaubt, weil es zum Beispiel in sein Weltbild passt.
Die Geschichten, die aus den mehr oder weniger nachgeprüften Fakten dann gesponnen werden und uns als „die Geschichte“ vermittelt werden, sind aber nichts anderes als „Geschichten“. Englisch: Es sind „stories“. History ist eine Ansammlung von stories. Das ist alles, was wir haben: Geschichten über die Geschichte. Gute Geschichten müssen sich natürlich an die Fakten halten, die nachprüfbar sind, und sie sollten diese Fakten so genau wie möglich enthalten. Dennoch bleiben es Geschichten, und sie können trotz richtiger Fakten ein ebenso falsches Bild erzeugen, wie es Markus Söder mit seiner Flugzeuggeschichte getan hat.
Nach dieser langen Einleitung komme ich zum Thema. Kürzlich hat ein sehr mutiger und kenntnisreicher Geschichtenerzähler eine neue Geschichte über Adolf Hitler vorgelegt. Es ist eine atemberaubende Geschichte, detailliert, faktisch fundiert, gänzlich neu und, von einigen überflüssigen Wiederholungen und einer zu langen Einleitung abgesehen, sehr gut erzählt. Sie ist auch zutiefst verstörend – nicht nur, weil sie die gängigen Geschichten, also das, was wir als unsere oder Hitlers Geschichte zu kennen glauben, vollkommen auf den Kopf – oder besser: vom Kopf auf die Füße – stellt, sondern auch, weil damit ein ganzes Weltbild, unser Bild von gut und böse und von den Männern, die angeblich die Geschichte machen, erschüttert wird.
Der Geschichtenerzähler heißt Claus Hant, und er ist kein Historiker, sondern Drehbuchautor. Es scheint, als hielte er das für ein Manko, denn am Anfang des Buches begründet er lang und breit, warum er sich trotzdem für qualifiziert hält, ein historisches Buch über Hitler zu schreiben: weil er es in seinem Beruf gelernt hat, einen Menschen aus dessen innerem Erleben heraus zu gestalten und zu verstehen. Das, so sagt er, fehle allen Hitler-Biografien, sie alle betrachten Hitler nur von außen und suchen nach Erklärungen dafür, wie ein Mensch ein solches Monster sein oder werden konnte. Dabei falle alles, was nicht in dieses Monster-Bild passt, unter den Tisch. Den Menschen Adolf Hitler hält man damit von sich fern, und den Geist einer Zeit, der nach solch einem Menschen verlangte, ihn hervorbrachte und ihm begeistert folgte, gleich mit.
Damit hat Claus Hant Recht, das herrschende Hitlerbild ist ein erbärmliches Klischee. Es vermag in keiner Weise die Faszination zu erklären, die Hitler auf die Menschen seiner Zeit ausgeübt hat. Er erscheint darin als durch und durch böse, als cholerischer Schreihals, als hässliche Fratze, als tyrannischer Despot, als lächerlicher Dummkopf, als primitiver Lügner, als hasserfüllter Psychopath, als jämmerlicher Versager, als stumpfer und unnahbarer Einzelgänger, unfähig zu sozialen Kontakten und vieles Ähnliche mehr. Ein solcher Mann soll von einem großen Teil des Volkes, vor allem von jungen Frauen, und von sehr vielen, die ihn recht nah kannten, geliebt worden sein wie vielleicht nie ein Staatsmann vor und nach ihm? So sehr, dass man sich ihm auch 75 Jahre nach seinem Tod nur im Schutzanzug zu nähern wagt, weil man Angst hat, das Volk könnte noch einmal von diesem gefährlichen Virus infiziert werden? Ein solcher Mann soll Thomas Mann beeindruckt haben, soll Martin Heidegger als großer Führer vorgekommen sein, soll die bessere Gesellschaft Münchens für sich eingenommen und den General Ludendorff bewogen haben, ihn, als er noch ein Niemand war, hohen Kreisen als den Mann zu empfehlen, der Deutschland vielleicht aus der katastrophalen Lage nach dem Ersten Weltkrieg führen könnte? Claus Hant lässt die in- und ausländische Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Kultur in Originalzitaten sozusagen an Hitler und am Leser vorbeidefilieren, um dieses törichte Hitlerbild zu zerschreddern. Es gehört in den Papierkorb.
Auch wenn er kein Historiker ist und keine eigene Quellenforschung getrieben hat: Hant scheint alle aufgearbeiteten Quellen gelesen und verarbeitet zu haben und hat daraus eine Geschichte gemacht, die es in sich hat und sich spannender liest als ein Thriller. Es ist keineswegs eine Phantasiegeschichte, er bleibt immer hart an den Fakten, so weit sie bekannt sind, fügt sie aber ganz anders als üblich zusammen. Nur in einem ist er nicht konsequent oder hat es selbst nicht ganz durchschaut: Er präsentiert zwar, wie es der Untertitel sagt, neben vielen bekannten auch einige „wenig bekannte Fakten“, aber das wäre an sich nicht besonders aufregend. Eigentlich müsste das Buch heißen: „Hitler. Eine andere Geschichte“. Das wirklich Neue ist nämlich die Geschichte, die er aus diesen Fakten macht. Mit dieser Geschichte braucht er sich vor keinem Historiker zu verstecken. Ganz im Gegenteil: Er ist der bessere Geschichtenerzähler.
Das Hitlerbild, das dabei entsteht, ist zutiefst verstörend und erschütternd für jeden, der es gerne plakativ hat und der Dichotomie von gut und böse anhängt. Es zeigt einen höchst vielschichtigen, hoch intelligenten, außerordentlich belesenen und autodidaktisch gebildeten, vielseitig begabten und dazu im persönlichen Kontakt sehr freundlichen, humorvollen und sogar toleranten Menschen mit einer ungeheuer kraftvollen Aura, die viele hochgebildete Menschen und auch ausländische Politiker in ihren Bann zog. Es sind, um es ganz pointiert zu sagen, gerade die „guten“ Eigenschaften an diesem Mann, die ihn nicht nur für viele Deutsche zum Idol gemacht haben, sondern auch im Ausland eine außerordentliche Bewunderung hervorgerufen haben, ehe sich das Hitlerbild dann im Laufe des Krieges und insbesondere danach ins Dämonische und zugleich Lächerliche wandelte. Wer dies gelesen hat, wird die Menschen, die Hitler damals gefolgt sind, nicht mehr leichthin verurteilen können.
Man muss es angesichts dieser von ihm herausgestellten Eigenschaften Hitlers vielleicht betonen: Claus Hant ist kein „Rechter“, kein Hitler-Fan und auch kein Hitler-Verharmloser, ganz im Gegenteil, das sind eher jene, die ihn als dümmlichen Schreihals und hassgetriebenen Fanatiker darstellen. Er geht nur konsequent der Frage nach: Wie konnte dieser einfache Mann ohne Schulbildung, geschweige denn Studium, so viele kluge Menschen einschließlich fremder Politiker, die Deutschland und vor allem ihm persönlich gewiss nicht freundlich gesinnt waren, für sich einnehmen? Woher hat dieser bis zu seinem 30. Lebensjahr völlig unscheinbare Mensch die Fähigkeiten und die Kraft gewonnen, ein vollkommen am Boden zerstörtes, wirtschaftlich ausgeplündertes und politisch völlig zerstrittenes Land in weniger als einem Jahrzehnt zur größten Weltmacht zu führen und zum unantastbaren Führer Deutschlands, zum meist bewunderten und geliebten ebenso wie zum meist gehassten und gefürchteten Politiker aller Zeiten zu werden? Und das alles in nur wenigen und für ein Staatsoberhaupt vergleichsweise jungen Jahren (er war 30, als er die NSDAP gründete, und 44, als er an die Macht kam)?
Eingebettet ist die Persönlichkeitsbeschreibung Hitlers in den Kontext des Zeitgeistes am Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch hier liefert das Buch Außerordentliches, sowohl auf der geistigen Ebene, wenn Hant über die damals in der Wissenschaft – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten Westen – vorherrschende Rassentheorie und Eugenik, über die Philosophie und die Kunst jener Zeit (Nietzsche, Schopenhauer, Wagner) und deren Einfluss auf Hitler schreibt, als auch auf der Ebene der historischen Tatsachen, etwa über das Wien der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, über den Krieg selbst, die Folgen des Versailler Vertrages oder über die revolutionären Wirren in Deutschland, insbesondere in München, am Ende des Krieges. Es wird dabei deutlich, wie sehr Hitler ein Produkt seiner Zeit war und wie sich die geistigen Strömungen dieser Zeit in seiner politischen Vision zu einem Ganzen zusammenfügten.
Was damit aber nicht erklärt werden kann, ist, wie ein kleiner und ganz unbedeutender Mann wie Adolf Hitler zu einer quasi religiösen Heilsgestalt, zu einem Erlöser werden konnte, dem auch die höchsten Kreise huldigten – denn damals waren Klassen noch Klassen, und jemand aus der Unterschicht wie Hitler war für einen Aristokraten, einen hohen Offizier oder jemanden aus der Kulturelite normalerweise nicht mehr als ein Schuhputzer, den man noch nicht einmal richtig anschaute. Und normalerweise hätte so jemand es auch nicht gewagt, sich mit solchen Leuten auf Augenhöhe zu unterhalten, wenn sie es denn zugelassen hätten.
Das Buch kulminiert daher folgerichtig in der Geschichte von Hitlers Verwandlung vom sehr mutigen, aber introvertierten und scheuen einfachen Soldaten, der sich zwar heimlich zu Größerem – nämlich einem großen Künstler, aber nicht zu einem Politiker – berufen fühlt, aber nur dadurch auffällt, dass er immer ein Buch dabei hat und ganz viel liest, zum Volkstribun und Redner, der in kurzer Zeit die Massen in seinen Bann zieht; von einem an sich zweifelnden jungen Mann ohne jede formale Bildung und ohne Berufsabschluss zu einem Menschen, der sich vollkommen selbstsicher in den höchsten Kreisen der Münchener Kulturszene bewegt und im persönlichen Kontakt jeden zutiefst beeindruckt, indem er ihm einfach nur in die Augen schaut; von einem jungen Mann, der sich vor dem Krieg mit dem Malen von Postkarten über Wasser hält und zu unsicher ist, um sich irgendwo für eine Ausbildung oder eine Tätigkeit zu bewerben, die ihm den erträumten Aufstieg ermöglicht, zu einem absolut klaren und zielstrebigen Organisator und unangefochtenen Führer einer Partei und Volksbewegung, die mit sieben Leuten beginnt und nach fünf Jahren schon eine Massenbewegung ist.
Diese Verwandlung ist der dramaturgische Höhepunkt der Geschichte von Claus Hant. Zugleich liegt hier die entscheidende Lücke im Hitlerbild aller Historiker, denn niemand gibt auf diese entscheidende Frage nach Hitlers Wandlung eine überzeugende Antwort, wenn denn überhaupt jemand darauf eingeht.
Ich werde die Geschichte hier nicht verraten. Ob sie sich so, wie Claus Hant sie erzählt, tatsächlich zugetragen hat, steht ohnehin in den Sternen und wird auch für immer dort bleiben. Aber es ist eine spannende und sehr plausible Geschichte, in der es um eine innere Erfahrung geht, die durch Hitlers Kriegsverwundung und ein daraus resultierendes psychisches Trauma ausgelöst wurde und eine Art Initiationserlebnis zur Folge hatte. Ich hätte es gut gefunden, wenn Hant die einzige andere Geschichte, die über diese Verwandlung Adolf Hitlers in einen von einer göttlichen Mission beseelten und zutiefst davon überzeugten Menschen existiert, nämlich die, die Bernhard Horstmann in dem 2004 erschienenen Buch „Hitler in Pasewalk“ erzählt, mit einbezogen hätte. Sie ist zwar, wie Hants Geschichte auch, letztendlich nicht verifizierbar, aber psychologisch für mich ebenso überzeugend wie Hants Version. Vielleicht gehören sogar beide Geschichten zum ganzen Bild. Leider erwähnt Hant sie nur kurz, ohne näher darauf einzugehen. Aber das ist nur ein kleines Monitum, denn im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: Hitler war nach einer vorübergehenden Erblindung durch Senfgas am Ende des Krieges und einem anschließenden Klinikaufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in Pasewalk plötzlich ein anderer Mensch.
Claus Hant hat die Geschichte von Adolf Hitler und seinem Aufstieg zum Führer neu geschrieben, auf der Basis der bekannten und einiger wenig bekannten Fakten. Herausgekommen ist eine Geschichte, die Sinn macht. Darin liegt auch ihre Wahrheit. Ob es „die“ historische Wahrheit ist, wird – wie bei jedem Geschichtsbuch – nie jemand wissen. Ich würde das Buch gerne als Film sehen – es müsste dann wohl eine mehrteilige Serie sein –, aber bis so etwas möglich ist, werden wohl noch mehr als hundert Jahre vergehen.
Wilfried Nelles, veröffentlicht am 31.03.2021
Claus Hant: Hitler. Die wenig bekannten Fakten.
Bookmundo, Rotterdam 2020. 596 Seiten, 26,80 €
ISBN 9789403604152
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