Pandemie und Wahrheit

Pandemie und Wahrheit

Gastbeitrag von Thomas Geßner

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Das Unfassbare

„Nah ist, und schwer zu fassen, der Gott.“, schrieb Friedrich Hölderlin in „Patmos“. Im Moment trifft dies auch auf das neuartige Coronavirus Covid-19 zu, wie auf alle Viren, bei näherem Hinsehen auch auf fast alles, was es sonst noch gibt.

„Nah und schwer zu fassen“: man kann Trägerin oder Träger des Virus sein, es also in sich haben und, ohne es zu ahnen, Menschen in der Nähe mittels Millionen virenhaltiger Tröpfchen in der ausgeatmeten Luft den Tod bringen. Einfach, indem man die elementarste Lebensbewegung überhaupt ausführt: Einatmen und Ausatmen. Man kann umgekehrt von jemandem, der einem zufällig in der Kaufhalle über den Weg läuft, eben jene virushaltigen Tröpfchen aufschnappen, einatmen, und schon hat man „Corona“. Wenn man das Leben so richtig feiert, wie etwa beim Tanzen, Lachen und Herumtoben, vervielfachen sich die Ansteckungsmöglichkeiten.

Wenn man es einatmet, sich in die Augen reibt oder auf die Zunge bekommt, wird das Virus im besten Fall dem eigenen Immunsystem erliegen, bevor es Symptome hervorrufen kann. Für die allermeisten Betroffenen scheint es ungefähr so abzulaufen. Im schlechtesten Fall wird es einen umbringen, nein, eigentlich bringen einen die eigenen Abwehrreaktionen um, ob es nun übermäßige Entzündungen der Lunge und anderer Organe sind oder verklumpendes Blut, das sich plötzlich verhält, als wären die Gefäße nicht in Ordnung.

„Nah ist, und schwer zu fassen, die Wahrheit.“ Ich wage es einmal, mich der feinen Gestalt eines Satzes von Hölderlin anzuschmiegen, um das aus meiner Sicht mächtigste Symptom dieser Pandemie sichtbar werden zu lassen: das Verschwinden der Wahrheit. „Wahrheit“ in einem zunächst ganz bescheidenen Verständnis, als Information über Tatsachen, oder ganz simpel gesagt: „Es stimmt einfach.“ Seit dem Bekanntwerden der Covid-19-Pandemie kann man nichts mehr über die Covid-19-Pandemie erfahren, denken oder aussprechen, das nicht sofort vom direkten Gegenteil mit augenscheinlich derselben Evidenz widerlegt würde.

Es spielt keine Rolle, welches Feld man sich dafür anschaut, sei es die wissenschaftliche Fachdiskussion, die politische Entscheidungsfindung, die Statistik, die Wirtschaft, die magische Welt der Verschwörungstheorien, die Medien oder den Alltagsverstand, der alles Derartige am Paradigma der „normalen Grippe“ abarbeitet: überall scheint das jeweils Gegebene in einer Art Ungreifbarkeit zu verschwinden, je näher man ihm kommt, und je fester man zugreift. Zugespitzt in der Frage eines Freundes: „Hätte man nicht getestet, hätten wir dann etwas bemerkt?“ Die Gegenfrage nickt schon: „Ja, aber die vielen Toten, in England, Italien, Spanien, Frankreich, New York?“ Es ist wie Seife im Hirn. Das „Reale“ an der Realität wird zur Ansichtssache (in einem bestimmten Sinn war das tatsächlich schon immer so, aber dazu an anderer Stelle vielleicht mehr).

Wahrheit und Bewusstsein

Was kann „Wahrheit“ in Pandemiezeiten denn sein, oder vielleicht auch leisten, wenn sie so nah und doch schwer zu fassen ist wie ein Virus oder Gott selbst? Wie und wo findet man etwas, „das stimmt“?
Wahr ist, was wirkt. Es schafft unmittelbare Realität. An dem, was gerade wirkt, kann jeder und jede ihr Wahres erkennen. Es bestimmt ihre Realität. Wenn wir also etwas über die Wahrheit eines Menschen erfahren wollen, müssen wir anschauen, in welcher Realität er oder sie lebt. Realitäten können sich in kaum vorstellbarer Weise voneinander unterscheiden. Die „objektive Realität“, welche man mir zu DDR-Zeiten im Staatsbürgerkundeunterricht nahebringen wollte, ist ein fantastisches und recht kindliches Märchen, mit dem sich die Welt wirksam vereinfachen ließ. Doch schon in ein und demselben Menschenleben geht man durch Realitäten, die sich zum Teil direkt widersprechen. Ein paar Beispiele:

Für das Ungeborene im Mutterleib gibt es keinerlei Unterscheidungen. Es lebt in Symbiose mit der Mutter, sie sind einander die Realität. Alles was sie erlebt, erlebt es ebenfalls. Alles ist gleichermaßen wahr, schafft Realität und wirkt, indem es in das werdende Kind hineinwächst und fortan zu ihm gehört. In diesem Stadium gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was ich davon halte. Ich kann und will es auch nicht unterscheiden.

Falls die Mutter, also die Umgebung von der man ohne jegliche Alternativen abhängig ist, sich plötzlich und stark verändert, etwa krank wird, in einen Schock gerät oder in große Angst, nimmt das werdende Kind dies als ernste Bedrohung wahr und reagiert unmittelbar so, dass es am Leben bleiben kann. Es schränkt seine Lebendigkeit ein, reduziert etwa Bewegungen und Stoffwechseltätigkeit. „Ich schränke meine Lebendigkeit ein, um bessere Überlebenschancen zu haben“ ist das älteste Überlebensmuster, das es gibt.

Im Mai 2020, in Zeiten der Pandemie, scheint sich dieses Muster in einer nahezu weltweiten und zuweilen atemberaubenden Dimension zu ereignen: Bewegung und Austausch, die zentralen Merkmale unserer Lebendigkeit, sind, mit regionalen und nationalen Unterschieden, mehr oder weniger stark eingeschränkt, um das Weiterleben zu sichern, besonders das Weiterleben von Menschen, die man zur Risikogruppe rechnet. Für ganze Gesellschaften ebenso wie für Kinder im Mutterleib ist dies immer ein riskantes Verfahren: die Selbsteinschränkung kann wiederum zur Gefahr werden und einen das Leben kosten, das man eigentlich schützen wollte. Im Frühstadium unseres Bewusstseins (Symbiotisches Einheitsbewusstsein nach Nelles), in der frühesten Art und Weise des „In der Welt seins“ jedoch gibt es keine Alternativen dazu.

Nach der Geburt hängt für das Kind alles daran, von der Mutter wahrgenommen, genährt und gehalten zu werden. Sonst muss es sterben, zumindest in der eigenen Wahrnehmung. In der Realität des Kindes ist Wahrheit zuallererst mit dem verbunden, was ihm das eigene Geschlecht, die Eltern, die Familie, das Land, die soziale Umgebung, eben die Umstände, in denen es aufwächst, vorgeben. Da es auf Leben und Tod abhängig ist von diesen Menschen und Umständen, hat es seine Wahrheit bei ihnen. Denn sie sind es, die in seinem Leben wirken und Realität schaffen. In seiner grundsätzlichen Abhängigkeit braucht es vor allem eine sichere Wahrheit. Unsicherheit nimmt es schnell als Lebensgefahr wahr. Ein Kind strebt sichere, am besten absolute Wahrheiten an, um sich geborgen fühlen zu können.

Menschliche Gruppen leben häufig in diesem kindliche Bewusstsein. In Zeiten gefühlter Bedrohung – ob die nun Krieg, Erdbeben, Finanzkrise oder Pandemie heißt, spielt dafür keine Rolle – wird „die Gruppe“ gefühlt wichtiger für das Überleben als in entspannten Zeiten. Je größer die gefühlte Bedrohung, um so größer das gefühlte Bedürfnis nach Sicherheit, also nach unverrückbarer, nicht zu bezweifelnder, absoluter Wahrheit. „Sagt uns, was wahr ist, und zwar mit Sicherheit, sonst bekommen wir Todesangst, und dann können wir für nichts mehr garantieren.“ Sie fühlen sich nur sicher, wenn „Mutti“ oder „Vati“ – innerlich übertragen auf Führungsgestalten wie politische Entscheiderinnen, Wissenschaftler, Wirtschaftslenker, Meinungsführer im Internet oder auf der Straße – ihnen die Welt plausibel und Sicherheit vermittelnd erklären und für sie ordnen sollen. Genau so, wie sie sich das als Kind damals von ihren Eltern gewünscht hätten.

Menschliche Gruppen in diesem Stadium, seien es Stämme, Nationalitäten, Religionsgemeinschaften oder auch politische Gesinnungsgenossen, Fanclubs oder Musikgeschmäcker schaffen sich unbewusst absolute Wahrheiten, auf die sie sich verlassen, denen sie vertrauen und an die sie „glauben“ können. Diese Wahrheiten repräsentieren dann die „gute Mutter“, den „guten Vater“, also innere Gestalten, die der kindlichen Seele die nötige Sicherheit geben können. Absolute Wahrheiten im Gruppenbewusstsein haben meistens die Gestalt eines Gottes, ausgeformt je nach dem aktuellen Sicherheitsbedürfnis.
Sie werden hochgehalten, verteidigt, nach außen getragen – immer angetrieben von dem unbewussten Überlebensbedürfnis des Kindes nach Sicherheit. Wenn nun die Welt sich anders verhält als die jeweilige absolute Wahrheit es gestattet, reagieren Menschen im Gruppenbewusstsein (nach Nelles) wie Kinder. Im kindlichen Bewusstsein reagiere ich als Erwachsener auf das Virus wie ich es als bedrohtes und verunsichertes Kind damals getan habe. Ich will, dass es jemand wegmacht, oder mir sagt, dass es nicht so schlimm sei. Das kindliche Gruppenbewusstsein lässt Menschen immer verzweifelter nach jemandem suchen, der die Situation endlich löst, oder sie zumindest so erklärt, dass es nicht mehr so schlimm ist.

Wer in Pandemiezeiten aus einer ganz konkreten Führungsverantwortung heraus das kindliche Sicherheitsbedürfnis der Gruppe nicht erfüllen kann, weil die Realität eben gerade nicht sicher ist, von dem fühlt sie sich „verarscht“. Das ist ein kindliches, genauer gesagt ein Opfer-Gefühl (beides ist psychologisch dasselbe). Es verlangt nach nach einer in sich konsistenten, vorhersehbaren und sicheren Welt. Wenn die nicht kommt, zieht man sich zurück und glaubt schließlich „gar nichts mehr“. Kinder können nicht anders, sie gehen bei inkonsistenten Eltern in die innere Emigration. Im Falle einer Pandemie kann es sich für Erwachsene wie damals anfühlen. Dann wirkt die frühere kindliche Wahrheit, dass man sich auf nichts wirklich verlassen kann. Das Ergebnis ist in der psychologischen Wirkung, also in der inneren Welt, dasselbe: wiederum die innere Emigration.

Die Pandemie zieht wie jede große Krise die Decke weg von allem, das schon länger darauf wartet, ans Licht zu kommen. Das bedeutet: wie Menschen auf die Pandemie reagieren, hat sehr viel damit zu tun, wie sie als Ungeborene und dann als Kinder mit Bedrohungen umgegangen sind und worauf sie noch immer zurückgreifen, wenn sich die Umgebung heute ähnlich bedrohlich anfühlt. Wir haben erst dann andere Möglichkeiten als die kindlichen, wenn wir begreifen, dass wir keine Kinder mehr sind. Mir scheint, die Pandemie zwingt viele Menschen dazu, schneller als sonst innerlich erwachsen zu werden, um überhaupt mit ihr zurecht zu kommen.

Bevor das jedoch eintreten kann, geht es mit der Wahrheit noch etwas weiter weg von der Realität, oder anders gesagt, von dem, was in einer Pandemie der Fall ist.

Wahrheit und das Virtuelle

Wir alle sind Nachkommen von Pandemie-Überlebenden. Wenn unsere frühen Vorfahren nicht die Zeiten der Pest, der Cholera oder später der Spanischen Grippe überlebt hätten, würde es uns nicht geben. Überlebende überlassen alles, was sie hat überleben lassen, ihren Nachkommen, nicht etwa mit Vorsatz, sondern einfach, weil sie als Überlebende diejenigen sind, die sich weiter fortpflanzen können. Dies ist das Prinzip der Evolution. Es gilt nicht nur für unsere äußere, körperliche Beschaffenheit, sondern auch für ihren inneren Spiegel, unsere Psyche.

Sie vollzieht in jeder gefühlten Bedrohung die gleiche Bewegung wie unser Körper: Unterdrückung der eigenen Lebendigkeit zum Zwecke besserer Überlebenschancen. Bei mir selbst wie bei den meisten Menschen, mit denen ich zur Zeit spreche, scheint dieser psychische Grundvorgang im Moment sehr aktiv zu sein. Er verbraucht viel Energie im Hintergrund, also im Unbewussten. Die allgemeine Verlangsamung, Müdigkeit und teilweise Erschöpfung bringe ich vor allem damit in Verbindung. Für die Psyche bedeutet Wahrheit im Moment: „ich bin möglicherweise in tödlicher Gefahr.“

Vor diesem Hintergrund agiert die Wissenschaft. Seit Monaten wenden international ausgewiesene Fachleute für Viren, Epidemien und den Schutz vor denselben ihren trainierten Geist, ihre Expertise und gewaltige materielle Ressourcen der Erforschung und Bekämpfung des neuartigen Coronavirus zu. Sie legen Ergebnisse vor, immer neue, was sich aus dem nur schrittweise möglichen Erkenntnisfortschritt ergibt. Manchmal entsprechen sich die Ergebnisse verschiedener Bemühungen, manchmal widersprechen sie sich. Genau deshalb heißt dieser Prozess ja „Forschung“ und nicht „Gesetzgebung“.

Im kindlichen Geist erzeugen widersprüchliche Wahrheiten das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, als ob die Mutter, von der das Leben abhängt, z.B. etwas Wohlwollendes sagt und dabei das komplette Gegenteil ausstrahlt. Im jugendlichen oder auch pubertären Geist erzeugen Widersprüche einen Kampf. Der jugendliche Geist will und muss Unsicherheit und Bedrohung endlich ausmerzen, um des eigenen Überlebens willen. Er muss heraus aus den gewohnten kindlichen Verhältnissen und sich (und damit das innere Kind) in Zukunft möglichst umfassend vor derartigen Bedrohungen schützen, um selbstbestimmt in der selbstgemachten („autonomen“) Realität leben zu können. Vorgegebene Realitäten hasst der jugendliche Geist wie der Teufel das Weihwasser.

Der jugendliche Geist strukturiert und begrenzt das moderne Bewusstsein in der westlichen Welt. Wenn man ihm mit Daten kommt, die sein Bild der Welt, der Anderen und seiner selbst in Frage stellen, geht er in den Überlebensmodus: er verteidigt sein inneres Bild der Realität als „die Wahrheit“. Und er will „die Realität“ seinem inneren Bild unterordnen, unbedingt, jetzt und für alle Zeit. Dazu erforscht er die Welt. Das Verstehen wollen ist die prominenteste Kontrollbewegung, die das moderne Bewusstsein zur Verfügung hat. Gleichzeitig führt es in die totale Sackgasse.

Am deutlichsten sehe ich es im Internet. Das Internet gibt es erst seit ein paar Jahrzehnten, es ist entwicklungsgeschichtlich sozusagen brandneu. Es wirkt auf mich wie wie die gedankliche Innenwelt eines Wesens mit millionenfach multipler Persönlichkeit: alles passiert gleichzeitig. Alles ist gleich wichtig. Jedoch hören wir immer zunächst die Stimmen, welche eine gefühlte Bedrohung signalisieren, da sich unsere Aufmerksamkeit unbewusst zu jeder Zeit auf die für das Überleben wichtigsten Nachrichten ausrichtet. Auf diesem Prinzip beruht die Welt der Unterhaltung, der Medien und natürlich der Werbung.

Nun, im Internet ist alles virtuell, also nicht „wirklich“ im Sinne physischer Realität. Das Internet transportiert nichts anderes als digitalisierte Abbilder unzähliger physischer Realitäten, und zwar immer alle gleichzeitig. Es entspricht darin unserem modernen Bewusstsein, dem Bewusstsein vom Ich. Das Ich-Bewusstsein lebt in seinen Abbildern von der Welt. Seine eigene Vorstellung von der Welt hält es für wirklicher als die Welt selber. Das innere Bild von der Welt, den Anderen und dem eigenen Leben hat in derselben lebensentscheidenden Weise „die Wahrheit“, wie es das Verhalten der Eltern für das Kind hatte oder der Mutterleib für das Ungeborene. Das bedeutet in der Konsequenz: für das Ich-Bewusstsein gibt es keine Wahrheit außerhalb seines Horizontes, obwohl und gerade weil es mit Hilfe der Wissenschaft immerfort danach sucht.

Zurück zu unserem Beispiel von Wissenschaft in Zeiten der Pandemie. Es zeigt sich: unabhängig davon, was die forschenden Einzelpersonen, Teams oder Unternehmen konkret herausfinden und umsetzen, werden sie keine allgemeine Wahrheit über „das Virus“ herstellen können. Diese Wahrheit hätte den Status von etwas Vorgegebenem, also von etwas, das unabhängig von der eigenen Wahrnehmung, Befindlichkeit und Weltsicht wirkt, das also Realität herstellt. Solch ein Vorgegebenes an sich ist aber der Todfeind des modernen Bewusstseins, denn es macht die Herrschaft des eigenen Weltbildes so obsolet wie eine Betonwand, vor die man immer wieder läuft. Das Vorgegebene ist stärker, wirkmächtiger und damit „wahrer“ als die eigene Vorstellung von den Dingen, und das darf nicht sein, denn es schafft eine gefühlt lebensgefährliche Bedrohung.

Das Ich-Bewusstsein und die unmittelbare Wahrheit des Gegebenen schließen sich aus. Mit seinem unstillbaren Drang, die Welt zu erklären, versucht es, die Realitäten des Daseins in innere Bilder, etwa in konsistente Erklärungen a lá Naturgesetzen zu verwandeln, weil es sich damit sicherer fühlt als im unmittelbar nackten Kontakt zu dem, was ist. Je mehr sich das Ich-Bewusstsein in der Welt etabliert, um so weniger werden wir uns untereinander über gemeinsam anerkannte Gegebenheiten und über ihre Wahrheit verständigen können. Mein Freund und Kollege Coen Aalders (Utrecht, NL) hat dies in einem bemerkenswerten Artikel über das Zeitalter der Fake-News dargestellt.

Es gibt nach meinem Eindruck im Moment keinen Ausweg aus dieser Situation. Es gibt nur verschiedene Formen, damit umzugehen, etwa: das politische Handeln, welches einer bestimmten wissenschaftlichen Wahrnehmung folgt und Kontakteinschränkungen verordnet. Dann den Protest gegen diese Maßnahmen. Dann die Verlagerung der eigenen Unsicherheit nach außen in Form der Beschuldigung, Herabsetzung oder auch Dämonisierung anderer Menschen, Gruppen oder auch gleich ganzer Staaten.

Der Schlachtruf dieser Verlagerung heißt „Meinungsfreiheit“. Er wird häufig mit derselben erbitterten Unbedingtheit eingesetzt wie das Schwert oder die Maschinenpistole in der Endphase kriegerischer Auseinandersetzungen. Ich sehe dabei, wie sich das jugendliche Ich-Bewusstsein echte Lebensgefahr erlebt, und zwar nicht durch das Vorhandensein eines Virus und einer daraus folgenden Pandemie, sondern durch die Unausweichlichkeit dieser Erscheinungen.

Das prominenteste Opfer einer Pandemie in Zeiten des modernen Bewusstseins ist die Wahrheit. Und zwar nicht, weil niemand sie hören will, sondern weil alle danach suchen. Je mehr sie verfolgt wird, um so ungreifbarer wird sie. Je unerbittlicher sie verteidigt wird, um so unausweichlicher verschwindet sie. Einen klareren Spiegel dessen, wie das moderne Bewusstsein funktioniert, habe ich noch nie gesehen.

Es gibt dabei auch nichts zu tun, „es gibt keinen Ausweg, außer dem, den du mit deinen Augen nicht sehen kannst,“ hat Bob Dylan einmal gesagt („There’s no exit in any direction except the one you can’t see with your eyes“). Wenn wir etwas Wahrem begegnen wollen, also etwas, das unmittelbar wirkt und „einfach stimmt“, dann müssen wir uns dem, wie das moderne Bewusstsein in dieser Pandemie agiert, voll aussetzen, ohne uns zu wehren. Wir stoßen dabei auf die einzige Wahrheit, die wirkt: unsere eigene. Nur meine eigene Wahrheit stellt meine Realität für mich her. Andere Wahrheiten tun dies für andere, nicht unbedingt jedoch für mich. Eine gemeinsame Wahrheit beschränkt sich darauf, dass wir offensichtlich da sind. Mehr lässt sich nicht sagen. Mehr ist jedoch auch nicht nötig, um leben zu können, auch nicht in Zeiten der Pandemie.

Was wirkt

Ich sehe, wie die sich aus der Pandemie entwickelnde Krise nahezu alle Menschen in der bekannten Welt ohne das geringste Erbarmen ins Mark der gewohnten Lebensweise trifft. In bisher unbekannter Weise zwingt sie uns alle durch die verschiedenen staatlichen Schutzreaktionen zu Dingen, die wir freiwillig vielleicht nie tun würden: zu unseren Liebsten Abstand zu halten, auch wenn diese krank sind oder im Sterben liegen, als Kind bei herrlichstem Wetter wochenlang im Zimmer hocken zu bleiben, als Familie sich gegenseitig ohne Ablenkungsmöglichkeiten auf der Pelle zu hocken, als Unternehmer das eigene Geschäft und damit die wirtschaftliche Existenzgrundlage den Bach herunter gehen zu lassen, als Angestellte in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit zu gehen oder sich in „systemrelevanten Berufen“ kaputt zu arbeiten, als Bürger auf ehemals hart erkämpfte Freiheitsrechte zu verzichten, alle miteinander mit Hilfe der verschiedensten Masken wie bekloppte Bankräuber auszusehen, im direkten medizinischen Kontakt mit Covid-19-Erkrankten über alle eigenen Grenzen zu gehen, als politisch Verantwortliche die Grundstrukturen unserer äußeren Welt in atemberaubender Geschwindigkeit und Radikalität lahm zu legen, als davon unmittelbar Betroffene die eigene Community in Gestalt des Staates wild zu bekämpfen oder eben diesem Staat über alles zu vertrauen. Im Grunde liefert die Pandemie jede und jeden sich selber aus. Das ist oft sehr ungewohnt und manchmal kaum zu ertragen.

Ich sehe, wie die Pandemie uns alle an einen bestimmten Platz stellt und andere, uns bisher vielleicht zugängliche Plätze, versperrt. Wie eine Wand, die unvermittelt da steht, wo man bisher entlang gehen konnte. In dem gleichnamigen Film „Die Wand“ gibt es plötzlich mitten in der Landschaft eine unsichtbare und unüberwindliche Barriere. Sie verändert alles unwiderruflich.  Jeder Platz, an den uns die Pandemie, genauer: die damit verbundene Krise, stellt, hat seine eigene Wahrheit. Sie ist eben das, was dieser Platz bewirkt. Mein Platz zum Beispiel hat seine Wahrheit in der relativen Tatenlosigkeit. Meine gewohnte Arbeit, die therapeutische und ausbildende Tätigkeit mit unterschiedlich großen Gruppen von Menschen, ist mir gerade verwehrt. Ich bekam Angst, hatte schlaflose Nächte, ging buchstäblich die Wände hoch. Es fühlte sich an wie eine unbestimmte und doch akute Lebensgefahr, bis es irgendwann still wurde. Genauer: bis ich irgendwann in mir selbst die Stille zuließ.

Dann, erst dann, begann die erzwungene Untätigkeit ihre Ressourcen zu öffnen und zu wirken. Sie wirkt, und das heißt, sie wird wahr, im Sinne von: jetzt stimmt es für mich. Ich bin auf eine neue Weise frei und lebendig, obwohl oder gerade weil ich nicht das tun kann, was ich sonst tue. Dieser Vorgang wiederholt sich mit graduellen Unterschieden, aber die Lähmung und die darin lauernde Panik sind verflogen.

Jemand hat einmal gesagt: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Jesus war das, ein Mensch der Antike. Ich glaube, er wusste, wovon er sprach. Als Mensch des modernen Bewusstseins von heute verstehe ich: Die einzige Wahrheit, die ein Mensch zur Verfügung hat, ist die seines Bewusstseins. Immer wenn du dich ihr ergibst, wirst du frei. Dein „Platz“, den dir die Krise zuweist, ist letztendlich dein momentanes Bewusstsein, das „Wie“ Deines inneren Lebens. Es bestimmt, was du erlebst, was du fühlst, was du tun kannst und was nicht.

Ich sehe, dass auch die Wahrheit einer Pandemie oder weltweiten Krise nichts Statisches oder Absolutes hat. Sie bewegt und verändert sich von Moment zu Moment. Das kann einen wahnsinnig machen, solange man dies so wenig von sich trennen kann wie etwa in der vorgeburtlichen Symbiose, solange man jede Veränderung dieser Wahrheit unmittelbar auf sich selbst bezieht, wie Kinder es tun, und solange man jeder Bewegung der Wahrheit kritisch forschend und ergründend gegenüber steht, mit dem eigenen Weltbild als Maßstab, wie es die Jugend tut.

Erwachsene leben anders. Auch für sie verändert die Wahrheit sich ständig. Sie haben erlebt, dass die einzige Sicherheit, die es in dieser Welt gibt, die unfassbare Stille in ihrem eigenen Inneren ist, und zwar von Moment zu Moment. Der Maßstab für „ich bin bedroht“ oder „ich bin gerade sicher“ liegt nicht mehr so sehr in äußeren Ereignissen und ihrer Bewertung durch mein Weltbild. Er liegt mehr innen, dort, wo es keine Werte, keine Maßstäbe und keine Konzepte gibt, nur Stille. Dort pulsiert das Leben, das uns gegeben ist, völlig unabhängig von dem, was draußen passiert.

Erwachsene lernen, die kostbare Energie ihrer Aufmerksamkeit immer wieder von dem Äußeren, Bedrohlichen, Belastenden und Nervigen nach innen zu lenken, wo es still ist, und wo alles so sein darf, wie es erscheint. Wo man seine Energie hinlenkt, das gewinnt an Kraft. Man kann den Panikmodus mit Energie füttern oder aber die innere Stille. Wir haben diese Wahl, sie gelingt nicht immer, aber immer wieder. Mit der Aufmerksamkeit auf der Stille wird diese wirksam, wird also zu meiner Wahrheit. Sie wird sichtbar, in dem wie ich handle, fühle und denke.

Die Pandemie tötet jede Wahrheit, sofern man sie im Außen sucht. Sie gewinnt dabei immer, solange man Tatsachen, Meinungen und Strategien im Kampf um die Wahrheit gegeneinander antreten lässt. „Tatsachen, Meinungen und Strategien“ vertreten immer nur innere Bilder und unbewusste Rettungsmuster. Die Pandemie bringt Wahrheit ins Leben, sofern man sich selbst erlaubt, mit dem zu sein, wo die Krise einen gerade hinstellt, innerlich wie äußerlich.

Man wird dabei erleben, wie der innere Jugendliche auf die Barrikaden geht und „Verrat“ schreit. Man wird erleben, wie das innere Kind sich verstört in eine dunkle Ecke verdrückt, weil „alles auf einmal so komisch ist.“ Man wird vielleicht auch erleben, wie das Ungeborene, das man einmal war, den Eindruck gewinnt, sein kurzes Leben gehe nun zu Ende, und sich innerlich schon darauf einstellt. All dies ist völlig ok., es ist sogar unumgänglich. Das einzig Wahre daran ist die eigene, lebendige Aufmerksamkeit, die all dies wahrnimmt und geschehen lässt. Sie allein macht uns handlungsfähig, so wie es der Moment gerade verlangt. Sie ist das, was wirkt.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 13.05.2020 hier veröffentlicht.

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